04 Lasse auch das Heilmittel sich natürlich befreien
Auszug aus: Borghardt, Tilmann (Lama Sönam Lhündrup): Geistestraining [Lodjong] in Freiburg (Abschriften)
Wenn bei dieser Untersuchung von Erscheinungen und Geist, die hier als Heilmittel betrachtet wird, Gedanken bezüglich des Heilmittels auftauchen, wie: „Körper und Geist sind völlig leer“, oder „In der Leerheit gibt es weder Nutzen noch Schaden“, dann denke an den 4. Merkspruch: Lasse auch das Heilmittel sich natürlich befreien
Indem du in die Natur des Heilmittels schaust, d.h. in das damit verbundene Denken an Nichtwirklichkeit, so erweist sich auch dieses als ohne Bestand und befreit sich auf natürliche Weise. Entspanne gelöst in diesem Zustand. Dies sind mündliche Unterweisungen, die den Sinn des Ausführens von analytischer Meditation verdeutlichen.
Die Instruktionen, die wir erhalten, sind Heilmittel – Heilmittel für eine Krankheit. Der erste Merkspruch über die traumgleiche Natur der Erscheinungen ist ein Heilmittel für unser
Haften an Erscheinungen. Der zweite Spruch ist ein Heilmittel für unser Haften an diesem Gewahrsein als ein Ich oder Selbst. Jetzt kann es aber sein, dass wir zu dem Schluss kommen, weder ich selbst noch Erscheinungen existieren wirklich, das alles ist illusorisch, das ist leer. Wir machen aus der illusorischen Natur und der Leerheit etwas wirklich Existierendes. Dann haben wir ein Problem.
Wir sind in dem Fehler gelandet, die Leerheit oder die illusorische Natur der Dinge für wirklich existent zu halten.
Das wird dazu führen, dass dieses noch vordergründige Verständnis zu einem Hindernis wird, weil wir glauben, da die Erscheinungen leer sind und ich selbst leer bin, spielt auch gar keine Rolle, wie ich mich verhalte. Ob ich jetzt schädliche oder heilsame Handlungen ausführe, das alles ist sowieso nur geistiger Zauber und ich brauche mich darum nicht zu kümmern. Das ist leer. In dem Moment begehen wir einen großen Fehler.
Das Heilmittel wird in dem Moment zu einem Gift. Eigentlich sollte uns die Betrachtung der illusorischen Natur des Seins lockern. Plötzlich verfestigen wir die vermeintliche Erkenntnis, die wir gemacht haben, und bestehen auf der Leerheit der Phänomene im Gegensatz zu ihrer ganz offensichtlichen Präsenz und Wirklichkeit. Wir entziehen uns der Verantwortung gegenüber unseren Handlungen, weil wir behaupten, alles ist doch leer. Das wendet sich gegen uns, weil wir dann Handlungen ausführen, die mächtige Auswirkungen haben werden und uns und auch anderen großes Leid verursachen.
Wenn wir diese Heilmittel anwenden, geht es darum, immer gelöster und entspannter zu werden. Das ist der Sinn dieser Untersuchung. Wenn wir an dem Punkt ankommen, dass wir einen Geschmack davon haben, was die illusorische Natur der Erscheinungen und des Geistes ist, dann lassen wir diese Analyse los und verweilen im natürlichen Gewahrsein. Das ist der nächste Schritt. Wir müssen die Analyse und auch die Fixierung auf die Ergebnisse der Analyse loslassen, um noch natürlicher und entspannter zu werden.
Der Kommentar von Lodrö Thaye sagt: „Schau in die Natur des Heilmittels, und dann erweist sich auch das Denken an Nichtwirklichkeit als ohne Bestand“, das heißt als bloße Gedanken. „Dann entspanne gelöst in diesem Erkennen der dynamischen Natur der Dinge, wo es nichts zu greifen gibt. Entspanne einfach darin.“
Dann sagt er: „Das sind mündliche Unterweisungen, die den Sinn des Ausführens von analytischer Meditation verdeutlichen“. Damit nimmt er Bezug auf etwas, das wir nicht wissen können. Es gab große Debatten über den Sinn und Zweck von analytischer Meditation, also dieses Analysierens des Geistes, seiner illusorischen Natur, der Leerheit der Erscheinungen usw. Der Sinn ist, uns in diese natürlich entspannte gelöste Offenheit zu führen und nicht an den vordergründigen Ergebnissen der Analyse kleben zu bleiben. Was leider so manchen Gelehrten passiert und auch so manchem Möchtegern-Guru, dass sie bei diesen Analysen kleben bleiben. Dann entstehen endlose Diskussionen daraus.
In unserer westlichen Welt heute sind diese scholastischen Debatten, die aufgrund von analytischer Meditation entstehen, unbedeutend geworden. Das Problem, das wir heute haben, sind Gurus, die viel über die illusorische Natur der Dinge sprechen, über die Leerheit der Dinge, und keinerlei oder kaum Anstrengungen unternehmen, ihren Schülern Ursache und Wirkung zu erklären, wie man das Leben in die Hand nehmen kann, damit es tatsächlich besser wird, damit man wirklich glücklicher wird.
Es geht immer um eine ausgewogene Darstellung der Wirklichkeit. Wir können nicht nur die letztendliche Ebene darstellen und meinen, das wäre alles. Weil: der Geist ist aktiv, wir leben in einer relativen Welt, wo Ursache und Wirkung tatsächlich die entscheidende Rolle spielen. Auch ein Guru mit seiner großen oder vielleicht gar nicht so großen Verwirklichung kann sich nicht herausnehmen, die Ursachen- und Wirkungsketten nicht zu berücksichtigen. Also zum Beispiel das Verhalten eines Gurus, der über die illusorische Natur der Dinge spricht, und dann mit allen Frauen schläft, die ihm über den Weg kommen, ohne Acht zu haben auf die Konsequenzen dieser Haltung, ist ein völlig verkehrtes und sehr schädliches Verhalten. Leider gibt es davon doch einige und immer mehr, die so auftreten.
Ich möchte euch jetzt noch ein Zitat geben, das auch von Gendün Rinpotsche stammt, das unsere Meditation beschreibt, wie denn das jetzt ausschaut, wenn wir das jetzt praktizieren.
„Wir lassen die Gedanken einfach vorbeiziehen, entstehen und vergehen wie Wolken im Himmel. Aus der Entspannung schauen wir dann direkt auf ihre wahre Natur. So entdecken wir die grenzenlose, durch nichts beschreibbare Weite des Gewahrseins.
In dieser Weite entstehen Gedanken, die im selben Moment vergehen. Die Natur eines jeden Gedankens ist der Wahrheitskörper, die Natur des Geistes. Indem wir ihre Natur erkennen, befreien sie sich von selbst.“
Das heißt, wenn wir diese drei Instruktionen zusammenfassen, kommen wir zu einer natürlichen Meditation, wo Gedanken entstehen und vergehen, und immer mal wieder schauen wir, ob es irgendetwas Wirkliches, etwas Substantielles in all dem gibt. Wir entdecken nichts von all dem und entspannen uns noch tiefer, immer mehr in diese große Weite hinein.
Ich fasse die Schritte der letzten drei Merksprüche noch mal zusammen.
Der Spruch über die traumgleiche Natur der Phänomene führt zu einem Nachlassen unseres Wirklichkeitsglaubens, unseres Glaubens an die Wirklichkeit der Dinge in eine Erfahrung von Leerheit hinein.
Der zweite Spruch hilft uns, diese Erfahrung zu analysieren, und es entsteht ein Verständnis, das auch diese Erfahrung und das Subjekt der Erfahrung, wir selbst, dieselbe Natur der Leerheit haben.
Der dritte Merkspruch hilft uns zu bemerken, dass auch dieses Verständnis nichts Greifbares ist.
Und um das Ganze zu besiegeln, kommt Merkspruch Nr. 5, also der vierte in dieser Reihe, den wir uns gleich anschauen.
Ja, bei einer Übertragung stellt man keine Fragen! Der Lama lädt ein, Fragen zu stellen.
Ihr müsst mir helfen, darauf zu achten, ob alle da sind. Da es sich um eine Übertragung handelt, kann ich normalerweise nicht anfangen, ehe nicht alle da sind.
weitere Informationen (Seite von Christian Weitbrecht)