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02 Betrachte alle Erscheinungen als Traum

Impression

Auszug aus: Borghardt, Tilmann (Lama Sönam Lhündrup): Geistestraining [Lodjong] in Freiburg (Abschriften)

Der Kommentar von Lodrö Thaye sagt: Die Erscheinungen dieser Welt mitsamt ihren Bewohnern, die wir für wirklich existierende Objekte halten, sind allesamt die täuschenden Projektionen unseres eigenen Geistes. Letztendlich existieren sie nicht im Geringsten als etwas Wirkliches, sondern gleichen den Erscheinungen in einem Traum. Bedenke dies und übe ein wenig dein Streben (das heißt: in dieser Sichtweise).

Es ist wichtig, die Formulierung genau zu betrachten. „Betrachte alle Erscheinungen als Traum“ bedeutet nicht: „Die Erscheinungen sind ein Traum“. Wir betrachten sie in Analogie zu unserer Erfahrung des Träumens.

Die Analogie ist folgende: Wenn wir schlafen, tauchen Träume auf. Den Träumen, wenn wir im Traum sind, schenken wir vollkommenen Glauben. Wir lassen uns von den Träumen zu emotionalen Reaktionen hinreißen. Wir folgen ihnen, als wären sie wahr. Wir wachen in Schweiß gebadet auf oder glücklich – was auch immer der Inhalt unseres Traumes war. Im Aufwachen merken wir: Ach, das war ja bloß ein Traum! Damit haben die emotionalen Reaktionen ein Ende, und auch die körperlichen Symptome flauen allmählich ab. Um diese Analogie geht es: das Einschlafen, das Verweilen in Unwissenheit, das Fürwirklichhalten und das Erkennen, dass es gar nicht so wirklich war.

Im Alltag läuft das ähnlich. Wir sind in einer grundlegenden Unwissenheit, wo wir von einem Ich ausgehen, in Abgrenzung zum anderen, zu allem anderen, nicht nur zu anderen Menschen. In dieser grundlegenden Unwissenheit schreiben wir uns selbst und all dem, was an Situationen auftaucht, eine Wirklichkeit zu und reagieren darauf mit all unseren Emotionen. Wenn wir zu der eigentlichen Natur der Dinge erwachen, dann merken wir, dass wir überhaupt nicht zu reagieren brauchen auf diese emotionale Art und Weise, dass wir im Grunde genommen ständig unseren geistigen Projektionen auf den Leim gehen. Das nennt man das Erwachen, und in dem Moment ist auch die Reaktion vorbei. Wenn das Erwachen stattfindet, hört das Verfangensein im Reagieren auf.

Über diesen Mechanismus der Projektion ließe sich jetzt noch sehr viel sagen. Am einfachsten zu verstehen sind die Projektionen, die sich als rein geistige Prozesse abspielen. Ich komme in einen Raum, jemand lächelt mich an, ich interpretiere das als: „Der mag mich“. Ich komme in einen Raum, jemand reagiert gar nicht, ich interpretiere das als „mag mich nicht“. Später finde ich heraus, dass die Person, die mich angelächelt hat, jede Menge Ärger auf mich schiebt, und die Person, die nicht gelächelt hat, eigentlich sehr freundlich ist. Ein Beispiel. Ich entdecke, dass ich in einer Welt der Interpretationen gefangen war. Der Ausstieg aus diesen Interpretationen und dem Reagieren auf all das, wie wir die Welt sehen, ist schon ein Anfang des Erwachens. In einem ersten Schritt geht es darum, auszusteigen aus diesem Glauben an das, was wir in der Welt so alles zu erleben meinen.

Das Gleiche spielt sich auch mit Räumen und Landschaften ab. Stellt euch vor, ihr kommt uns in Le Bost besuchen, und kommt in solch einen kleinen Retreatraum, wo ihr jetzt dann vielleicht eine Woche Retreat machen werdet. Je nachdem, was die karmische Projektion ist, werdet ihr sagen: Oh, so ein kleiner Raum, ist ja wie ein Gefängnis! Oder man kommt rein und sagt: Oh, ist ja ein Palast der Befreiung! Hier werde ich mich total wohl fühlen. Je nachdem, wie wir gerade gepolt sind, wird unsere Projektion laufen, und wenn wir nicht aufpassen, werden wir dem Glauben schenken.

Die Projektionen, von denen hier gesprochen wird, gehen noch viel tiefer. Der eigentliche Irrtum ist, zu glauben, dass da jemand in einen Raum hineinkommt.

Zum Beispiel sitzen wir jetzt hier im Raum und wir haben ein starkes Gefühl von „ich höre Lhündrub zu“ oder „Lhündrub spricht jetzt“, „ich spreche zu euch“. Dieses Gefühl des Getrenntseins im Zusammensein – natürlich, wir sind ja zusammen, aber dieses Gefühl – zum Beispiel, wenn ihr den Wunsch habt, „ich wünschte, ich könnte jetzt in Lhündrubs Geist reingehen und verstehen, was er sagt“, dieses Gefühl, dieser Wunsch ist aus der Trennung geboren. Diese grundlegende Trennung besteht eigentlich gar nicht.

Also: Alle Erscheinungen als Traum zu betrachten wird uns Schritt für Schritt in ein tieferes Verstehen des Mechanismus der Projektionen führen. All das Wechselspiel zwischen dem Erscheinen von unglaublich vielen Dingen im Geist und deren illusorischer Natur, des sich immer gleich wieder Auflösens, dieses Spiel von relativer und letztendlicher Wirklichkeit wird uns mit der Zeit immer klarer werden, wenn wir diesen Merkspruch immer wieder beherzigen und in der Praxis anwenden.

Ein wichtiger erster Schritt ist, den Träumen nachts keinen Glauben mehr zu schenken, sich aus der Faszination zu lösen für all das, was wir nachts träumen. Sonst funktioniert dieser Merkspruch gar nicht! Das einzig Interessante am Traum ist das Aufwachen danach!

Wir wissen, dass alles, was wir träumen, Ausdruck von unserem Karma ist, und die Psychoanalytiker bauen ihre ganze Arbeit darauf, dass man so viel über unser Wesen, unser Karma, lernen kann, indem man die Träume anschaut. Aber das interessiert uns hier nicht! Das ist nicht der Punkt, der uns hier im Lodjong interessiert.

Was uns interessiert, ist, dass wir ständig illusorischen Erscheinungen auf den Leim gehen und wie wir uns daraus befreien können, wie wir nicht wie eine Fliege ständig am Leim kleben bleiben.

Frage: Es ist egal, was wir träumen? Weil manchmal träumt man vom Lama oder so, und dann ist es ja ganz besonders, aber es ist genauso Illusion!

Genauso.

Es wäre verkehrt sich zu sagen, alles ist Geist und daher leer und illusorisch, und dann zu meinen, der Geist selbst würde als etwas Leeres existieren, getrennt von den Erscheinungen. Es geht jetzt nicht darum, allem das Etikett aufzudrücken, „illusorisch und deswegen leer“, und ich brauche mich nicht darum zu kümmern – alles fällt auseinander. Sondern es geht darum, ein feines Gefühl von der illusorischen Natur der Dinge zu entwickeln, gerade weil sie uns ja so beschäftigen und weil sie ganz offensichtlich existieren. Ihre offensichtliche Existenz wird nicht geleugnet. Es ist ganz wichtig, das zu verstehen.

Weil ihr nicht die ersten seid, die diese Unterweisungen empfangen und versuchen zu praktizieren, gibt es da auch Antworten darauf, und wir sehen das, wenn wir mit dem Kommentar weitergehen, da wird sich ein bisschen was davon erklären.

weitere Informationen  (Seite von Christian Weitbrecht)

Inhaltsverzeichnis
01 Als Erstes schule dich in den Vorbereitungen.
Die vorbereitenden Übungen
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