03 Untersuche die Natur des ungeborenen Gewahrseins
Auszug aus: Borghardt, Tilmann (Lama Sönam Lhündrup): Geistestraining [Lodjong] in Freiburg (Abschriften)
Falls du dich fragst, ob der Geist selbst wirklich ist (der das alles wahrnimmt und jetzt zuhört usw.), dann: Untersuche die Natur des ungeborenen Gewahrseins. Wenn du die Natur des Geistes direkt anschaust, ist nichts zu finden, wie eine Farbe, Form oder dergleichen. Der Geist hat keinen Ursprung, denn er ist zu keinem Zeitpunkt in der Vergangenheit entstanden. Jetzt, in diesem Moment, weilt er nirgendwo, weder außerhalb noch innerhalb des Körpers, noch sonst irgendwo. Und schließlich gibt es auch keinen Ort, an den er hingehen und aufhören würde. Durch sorgfältiges Untersuchen des Geistes solltest du Gewissheit erlangen über die Natur dieses Gewahrseins, das frei ist von Entstehen, Verweilen und Vergehen – und so alle Unsicherheit beseitigen.
Der Zusammenhang zwischen dem zweiten und dem dritten Merkspruch ist folgender: „Lhündrub, du sagst uns jetzt, wir sollten alle Erscheinungen als Traum betrachten. Wenn ich dich kneife, ist das jetzt ein Traum oder ist das kein Traum? Soll ich ein bisschen fester kneifen? Tut weh, oder? Da sage ich: Ja, ist aber auch nur eine Erscheinung im Geist. Na, ist denn dein Geist wirklich oder nicht wirklich? Soll ich noch ein bisschen fester kneifen? Ist er dann wirklich oder immer noch unwirklich?“ Die Frage nach dem Geist stellt sich – weil es ja schließlich unser Gewahrsein ist, das das alles wahrnimmt. Und entweder anhaftet oder nicht anhaftet. Also wenn ich über Erscheinungen spreche, kann ich jetzt nicht unterlassen, auch über den Geist zu sprechen, über das Gewahrsein. Darauf gibt es jetzt einige Antworten.
Auf diese Fragen hin „untersuche die Natur des ungeborenen Gewahrseins“ als einen nächsten Schritt. Der Kommentar weist uns darauf hin, dass es darum geht, jetzt eine Praxis auszuführen, den Geist direkt anzuschauen, ob wir etwas finden können. Gibt es da so etwas wie eine Farbe, eine Form oder dergleichen?
Dass wir uns hier zuhören, miteinander sprechen, das alles ist nur möglich, weil wir einen Geist haben, weil da ein Gewahrsein ist. Das wird nicht in Frage gestellt.
Die Frage ist: Als was gibt es dieses Gewahrsein? Gibt es eine Form, wo ist es, was passiert, wenn wir sterben und Geist und Körper sich trennen, gibt es überhaupt noch ein Gewahrsein ohne den Körper? Deswegen, um diese vielen Hintergrundfragen zu klären, sollten wir genau hinschauen und untersuchen. Können wir irgendwie den Geist lokalisieren? Hat er eine Form, eine Farbe usw.?
Wir leben unbewusst mit dem Gefühl, den Geist gibt es und das ist mein eigentlicher Wesenskern. Man kann sich vorstellen, der Geist ist im Gehirn oder ist sonst wo. Das lassen die buddhistischen Meister nicht so einfach ununtersucht. Diese Annahme, diese Hypothese, dass ich existiere, weil mein Geist irgendwo als ein Wesenskern existiert, schauen wir uns genauer an.
Der Merkspruch, die Erscheinungen wie einen Traum zu betrachten, führt dazu, dass wir alle Objekte der Wahrnehmung untersuchen und schauen, ob es sich dabei um etwas wirklich Existentes handelt. Alles was wir sehen, was wir hören, was wir schmecken, was wir fühlen, all das, merken wir, ist eigentlich nur eine Bewegung im Geist, die wir feststellen können, aus all diesen Sinneseindrücken. Der zweite Schritt dann ist, den Geist selbst zu untersuchen.
Wir suchen nach dem Gewahrsein, das all diese Erscheinungen wahrnimmt. Dafür müssen wir uns tief entspannen und eine gewisse geistige Ruhe zur Verfügung haben, um den Blick nach innen wenden zu können, um zu schauen: Wo finde ich denn dieses Gewahrsein, wo ist es? Die Fähigkeit, den Blick so nach innen zu wenden, entsteht nur, wenn wir einigermaßen ruhig sind, wenn wir Schinä, geistige Ruhe, entwickelt haben.
Wir schauen nach innen, eben war da noch ein Gedanke „ich bin“, aber wenn ich hinschaue, ist er weg. Gerade war da noch das deutliche Gefühl zu sein, wenn ich es lokalisieren möchte, ist es weg. Der Schmerz – wenn ich versuche, ihn zu finden, finde ich ihn nicht. Den, der den Schmerz wahrnimmt, wenn ich versuche zu lokalisieren, finde ich nicht. Wir bekommen einen Geschmack für eine Wirklichkeit, die sich dem Zugriff des Intellekts entzieht. Das ist die Entdeckung, die wir machen, dass der hinschauende Intellekt das Gewahrsein nicht schnappen kann, nicht erfassen kann, nicht lokalisieren, nicht beschreiben kann. Da ist etwas – aber es entzieht sich oder es ist nicht fassbar. Nicht dass es sich aus sich heraus entzieht, es ist nicht fassbar mit dem Intellekt.
Wenn wir das eine Weile machen, kommen wir zu dem Schluss, ich bin – ja klar, ich bin, Lhündrub, ja ich bin da, klar, ich bin. Aber ich bin auf eine Art und Weise, die sich dem Zugriff des Intellekts entzieht.
Dies bewahrt uns vor dem Fehler, die traumgleichen Erscheinungen aus der Ichperspektive eines Filmzuschauers zu betrachten. Ein großer Fehler, der sich einstellen kann, ist nämlich, dass wir gar nicht bemerken, dass wir selbst Teil dieses sich ständig wandelnden Filmes sind und es uns in einer Ichperspektive einrichten. Alles um uns herum ist wie der Film auf einer Leinwand, aber ich selbst bin das konstante Etwas, das alles betrachtet. Das ist ein Irrtum.
Jetzt schauen wir dieses Etwas an, das da so konstant und bleibend erscheint, und entdecken, ein ständiger Fluss von Gedanken, immer im Wandel, nicht greifbar, keine letzte Seele, keine letzte Essenz, die man greifen könnte – und wir sind Teil des ständig sich wandelnden Schauspiels. Da entsteht eine Leichtigkeit. Durch die Begegnung mit dem Nichtgreifbaren entsteht etwas, das letzten Endes zu einer viel tieferen Entspannung führt. Wir brauchen nicht immer unsere Existenz zu behaupten im Arbeiten mit einer vermeintlichen Außenwelt.
Ihr habt vielleicht die hinduistischen Unterweisungen gehört über „alles ist Maya“, „alles ist Illusion“. Ganz wichtig, dass derjenige, der das sagt, sich selbst als solches auch erkennt. Sonst entsteht genau dieses Problem des Filmzuschauers, der zwar weiß, was er für einen Film sieht, aber sich selbst total ernst nimmt. Und wenn man ihn ein bisschen piekt, dann ist nichts mehr mit Maya.
Frage: … Geht es darum, selbst den Beobachter immer wieder aufzulösen?
Immer zu merken, dass der Beobachter auch nur ein Gedanke ist, der sich einen Beobachtermantel umlegt.
Und das kann man durch Training sich immer wieder… Oh, einfach immer wieder hingucken! Versuch den Beobachter zu finden oder die Beobachterin. Wenn du das versuchst, wirst du diese Entdeckung machen. Zuverlässig.
weitere Informationen (Seite von Christian Weitbrecht)