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Bodhidharma

Bodhidharma (Quelle: Wikipedia)

„Historisch gibt es einige wenige Hinweise auf die Existenz eines Dhyana-Meisters namens Bodhidharma. Dass es sich dabei um einen aus Indien eingewanderten buddhistischen Mönch handelt, der wie viele andere Mönche durch die chinesischen Lande zog, das Dharma predigte und sich ganz der Meditation widmete, bezweifeln die Historiker nicht. Über die Lebensdaten dieses Mönchs liegen allerdings keine gesicherten Angaben vor. Die Historiker haben sich für das Jahr 532 als vermutliches Todesdatum entschieden. Die wenigen Daten stammen hauptsächlich aus drei Berichten aus dem sechsten und siebten Jahrhundert, die sich in Stil und Aussagen aber sehr voneinander unterscheiden. Gemäß einer dieser Chroniken stammte Bodhidharma ursprünglich aus Persien. Dies würde den roten Bart erklären.

Portrait von Bodhidharma, blauäugig, respekteinflößend. Tatsächlich gibt es Quellen, laut denen Bodhidharma blaue Augen gehabt haben soll. Demnach könnte er nicht indischer, sondern zentralasiatischer Herkunft sein. Werk von Sensho. 19. Jh. (?)  Waseda Library (Quelle: Univ. Wien)

In den anderen Chroniken wird er als Abkömmling eines indischen Brahmanengeschlechts beschrieben. Dass dieser Münch ein außerordentlich hohes Alter erreichte, scheint ebenfalls unumstritten. Aber in ihm den Gründer des Zen zu sehen, gilt aus der Sicht der Geisteswissenschaftler als naiv. Denn man weiß, dass die Zen-Schule nicht von einer Person gegründet worden ist, sondern sich langsam, über mehrere Jahrhunderte hinweg, durch das Wirken zahlreicher Menschen entwickelt hat. Wer sich für die historischen Einzelheiten dieser Entwicklung interessiert, sei auf das hervorragende Werk von Heinrich Dumoulin verwiesen.

Es ist das Merkmal von Legenden, dass sie ihre Helden idealisieren und deren Taten als etwas ganz Besonderes hinstellen. Was sollte wohl im Falle von Bodhidharma mit dieser Verherrlichung bezweckt werden? Und warum hat sich die Legende von Bodhidharma bis in unsere Zeit erhalten? Dafür gibt es hauptsächlich zwei Gründe: Erstens charakterisiert die Gestalt des Bodhidharma das Wesen der neuen buddhistischen Schule, die sich in China zwischen dem sechsten und achten Jahrhundert formiert hat und später unter dem Namen Chan bekannt wurde. Zweitens steht Bodhidharma aber auch für die nahtlose geistige Übertragung des Buddha-Dharma von Indien nach China. Er vereinigt in sich die Stellung des Achtundzwanzigsten Patriarchen in Indien und des Ersten Patriarchen in China. Alle heute noch existierenden Schulen des Zen leiten ihre Authentizität und Legitimität von dieser gemeinsamen Wurzel ab“ (Zentrum für Zen-Buddhismus, CH)

Zen – Karate – Japan

„In vielen Trainingsstätten (dōjō = 道場) des Karate findet sich ein Porträt des Bodhidharma, des ersten Patriarchen des Zen-Buddhismus in China. Unverkennbare Charakteristika der Darstellung sind sein wildwüchsiger Bart, buschige Augenbrauen, Körperbehaarung, Mönchsrobe, zuweilen ein Ohrring und stets ein geistesfunkensprühender Blick aus übergroßen Augen. Wie in der Ikonenmalerei sind diese Attribute unabdingbar und machen den Bodhidharma sofort identifizierbar. In Japan hat sich in der Zen-Malerei ein eigenes Subgenre herausgebildet, das daruma-e (達磨絵) oder daruma-zu (達磨図) heißt, demgemäß Bodhidharma-Bilder bezeichnet. Berühmt ist ein veritabler Zyklus von Bodhidharma-Tuschbildern von Hakuin (白隠, 1685-1768), eines ihm ebenbürtigen exzentrischen Zen-Mönches der japanischen Rinzai-Schule. Die oben angeführten Merkmale sollen das Fremdländische der Person Bodhidharma betonen, der nach überwiegender Ansicht aus Südindien stammt. Einige chinesische Quellen sprechen von Persien, das dürfte aber lediglich als Chiffre stehen für: Ausland.

Im Sinne einer Dekonstruktion ist auch am Mythos Bodhidharma berechtigerweise gerüttelt worden. Ich möchte hier eine Bestandaufnahme und Re-Evaluierung versuchen. Um Bodhidharma haben sich viele Legenden gesponnen, wie dies ja allgemein bei Heiligen oder religiösen Virtuosen der Fall ist. Vorerst möchte ich die Lebenslinien nachzeichnen, die sich aus dem über Jahrhunderte zur Person Bodhidharma Überlieferten ablesen lassen. Es darf begründet angenommen werden, dass es sich bei Bodhidharma um eine historische Persönlichkeit handelt. Freilich wurde die durch die Verehrung und Verklärung in einer Weise überhöht, dass sie überlebensgroß dargestellt wird. Die jüngere (zen-)buddhologische Forschung greift auf Quellen zurück, die ein oder zwei Jahrzehnte nach Bodhidharma’s Tod entstanden und auf viele andere fortgesetzte „Berichte über eminente Mönche“, wie eine Schrift heißt, die ein Jahrhundert später erschienen ist.  Auf alle Fälle ist er ein „virtueller Fokus“, Zentralfigur und Projektionsobjekt in Sachen Zen. Er gilt als der 28. indische und 1. chinesische Zen-Patriarch und damit als der Mönch, der das Erweckungserlebnis des Buddha Shakyamuni in direkter Linie weitertrug. In China führte er eine neue Form der Meditation ein, aus der sich, daran darf erinnert werden, der Name „Zen“ ableitet. Es wurzelt in der yogischen Praxis des dhyāna, das auch in den Yoga-Sutren des Patanjali als siebte Stufe der Yoga-Schulung anempfohlen wird. Dieses Sanskritwort bedeutet „Kontemplation, tiefe Meditation“ und wurde im Chinesischen mit den Zeichen 禪那 (chines. Lesung: chan’na) transkribiert. In der Verkürzung auf das erste Zeichen wird es auf Japanisch „Zen“ gelesen (simplifiziertes Schriftzeichen: 禅) und das gab der ganzen Schule ihren Namen. Bei Bodhidharma, der als Gründergestalt des in Blüte kommenden chinesischen Zen gilt, dürfte man daran interessiert gewesen sein, über ihn „den Ursprung der Bewegung in helles Strahlenlicht zu rücken.“

In ähnlicher Absicht wird Bodhidharma (fälschlicherweise) als der Gründer des Shaolin-Tempels (少林寺 jap. Lesung: Shōrinji) angesehen. Mit ihm als Galionsfigur wird der Tempel mit Prestige und Glorie sanktifiziert. Der Tempel befindet sich am Fuße des Berges Song (jap. Sū 嵩 etwa 1500m hoch) und wurde Ende des 5. Jh. von einem in Indien geborenen Mönch (chines. Batuo 跋陀 oder Fotuo 佛陀) gegründet. Er steht im Zentrum von fünf heiligen Bergen. Schon im 3. Jh. gab es dort ein buddhistisches Kloster, im 6. Jh. waren es sechs. Die Berge galten auch als beliebter Pilgerort daoistischer Adepten, sei es physisch oder geistig in der Meditation. Der Shaolin-Tempel wurde in der Provinz Henan, der größten Chinas, errichtet, knappe 50 Kilometer von der bedeutenden Stadt Luoyang entfernt. Unter der nördlichen Wei-Dynastie (386-534) war sie die Hauptstadt und unter deren Patronanz wurden dort um die tausend buddhi- stische Tempel gestiftet, deren Dächer mit ihrem goldenen Glanz die Augen betörten, wie es in zeitgenössischen Quellen heißt. Der Großteil von ihnen wurde mit dem Untergang der Wei zerstört. Nicht unweit blieben der Nachwelt hingegen die berühmten, monumentalen Steinbuddhafiguren erhalten, die in Longmen als Reliefs oder Statuen in und aus dem Fels gehauen worden waren. Im Shaolin-Tempel wurde eine Sutren-Über- setzungshalle gebaut, in der eminente indische Scholaren des 6. Jh. wie Ratnamurti und Bodhiruci wirkten.

In dieses Umfeld und geistig aufbereitete Klima kommt im Jahre 520 (oder 526/7) „der blauäugige Mönch aus der Fremde“ (碧眼の胡僧, jap.: hekigan no kosō), wie ein Bei- name des Bodhidharma lautete. Auch damit wird auf seine Herkunft aus fernen Ländern verwiesen. Mutmaßlich stammt Bodhidharma aus Kanchipuram, aus Südindien. Er soll der dritte Sohn eines Königs namens Sugandha aus der Dynastie der Pallava gewesen sein. Schon in jungen Jahren soll er durch den dhyāna-Meister Prajnatara einer religiösen Schulung unterzogen worden sein. Den Entschluss, sich zur Verbreitung des Dharma auf Wanderschaft zu begeben, habe er aus eigenen Stücken gefasst. In China wurde er unter dem Namen Damo (達摩, jap. Daruma) bekannt. Im 5. Jh. und 6. Jh. waren zahlreiche buddhistische Wandermönche unterwegs, um die Lehre und bestimmte Meditationsmethoden zu verbreiten. Die dramatis personae des Daruma, wie sie uns in zahllosen Quellen vermittelt wird, kann als zusammengestückeltes Palimpsest aus Überlieferungen, die über mehrere religiöse Genies und Geistesheroen kursierten, gedacht werden. Was wir über Bodhidharma wissen, stammt aus dem Genre der hagio- graphischen Erzählung. Seine „Biographie“ besteht aus Geschichten, die das dürftige historische Material typologisch ausschmücken.

Letztlich geht es aber um die Essenz, die via Bodhidharma tradiert wird. Besehen wir uns die aussagekräftigsten Legenden.

Bodhidharma-Legenden

Da ist zum einen die Begegnung mit Kaiser Wu (jap. Butei 武帝) und der Dialog, der sich zwischen den beiden entspann (oder der so rekonstruiert ist, dass das Wesen Bodhidharmas und seiner Lehre in nuce erhellt wird). Nachdem Bodhidharma nach langer Seefahrt im Jahre 527 in der Provinz Guangzhou landete, wurde er vom dortigen Gouverneur pompös empfangen. Seine Ankunft wurde dem Kaiser Wu weitergeleitet und er traf diesen 528 in Nanjing. Kaiser Wu sah sich als chakravartin („einer, der das Rad [der Lehre] dreht“, Herrscher) im Sinne des indischen Kaisers Ashoka (304-232 v. Chr.), legte mehrfach das Bodhisattwa-Gelübde ab und widmete sich buddhistischen Studien und Übungen. Er ließ buddhistische Tempel und Monumente errichten, lebte zeitweise strikt vegetarisch und schickte die meisten seiner Konkubinen zu ihren Fami- lien zurück. Bodhidharma hat nun die Chuzpe, dem Kaiser ins Gesicht zu sagen, dass alle „Verdienste“ wie Tempel stiften, Sutren abschreiben und Mönche weihen lassen, Schall und Rauch und keine Spur von Verdienst darstellen. Das wahre Verdienst, gab Bodhidharma auf die entsprechende Nachfrage kund, sei nicht auf materielle Weise erlangbar, sondern bestehe in reiner Weisheit, deren Wesen hingegen die Leere sei. „Was ist das erste Prinzip der heiligen Wahrheit?“ frug Kaiser Wu weiter. Bodhidharma entgegnete: „Nichts von heilig, offene Weite!“ Als Kaiser Wu wissen will, wer ihm da Rede und Antwort stand, gab Bodhidharma zurück: „Weiß es nicht!“

Dieses Zwiegespräch atmet ganz den Geist des Zen. Abrupte Abschmetterungen, absurde Paradoxe, irrwitziger Widersinn, ordinäres Vor-den-Kopf-Stoßen, Schweigen mit gestischer Theatralik, körperliche Züchtigung und wie oben furchtloses jeglicher Autorität die Stirne bieten gehören in das Repertoire der Meister-Schüler-Interaktionen in der Geschichte des Zen. Wie einer der ersten Pioniere des Zen im Westen, Fritz Hungerleider, trefflich notiert: „Das befreiende Lachen zu besitzen und es vermitteln können, ist eine besondere Gabe. Es ist mir keine religiöse Form der Menschheit bekannt, die das Zwerchfell mehr strapaziert als das Zen.“ 

Beispiele dafür gibt es zuhauf, ich möchte hier illustrativ nur eine kleine Episode aus Leben und Lehren des Bodhidharma-Portraitisten Hakuin anführen: „Dann war da noch die alte Frau in Hara, die Hakuin in einer Lehrrede sagen hörte: ‚Euer Geist ist das Reine Land und euer Körper ist der des Amida-Buddha!‘ Diese Aussage diente ihr als kōan  und eines Morgens erlebte sie den Durchbruch (= kenshō 見性: Verwirklichung, „Erleuchtung“) während sie nach ihrem Frühstück beim Aufräumen war. Sie eil- te zum Tempel, in dem Hakuin weilte und verkündete ihm: ‚Amida hat meinen Körper verschlungen! Das Universum strahlt! Wie herrlich, wahrlich!‘ ‚Unsinn‘, gab Hakuin zurück, ‚leuchtet es auch dein Arschloch aus?‘ Die fragile Alte versetzte dem großen Hakuin einen Stoß und rief: ‚Was weißt denn du schon von Erleuchtung?‘ Dann brüllten die beiden vor Lachen.“

Eine für die Zen-Praxis auschlaggebende Legende besagt, dass Bodhidharma neun Jahre lang vor einer Wand gesessen und meditiert habe. Reines Sitzen (tanza 単座), „ohne Sutren oder Schriften zu lesen oder sich vor Buddha-Statuen zu verbeugen“8, sprich: rituelle Handlungen auszuführen. Der Terminus auf Jap. lautet: 面壁九年 (menpeki kunen). Menpeki = „einer Wand gegenüber sitzen“ ist im Japanischen zu einem Synonym für das Sitzen im Stile des Zen (zazen 座禅) geworden und die Praktizierenden in der Sōtō-Schule sitzen in der Tat mit dem einer Wand zugewandten Angesicht in Meditation. Menpeki, das Zur-Mauer-gewendet-Sein, wird auch so interpretiert, dass der Geist mauergleich gegen die Außenwelt abgeschottet wird und so an nichts mehr anhaftet, was sich dort abspielt. Die Stelle, an der Bodhidharma gesessen haben soll, wird heutzutage Touristen, die den Shaolintempel besuchen, gezeigt. Ob er tatsächlich dort in kontemplativer Versenkung gesessen hat, ist historisch schwer belegbar. Dass es de facto so gewesen sein könnte, meint ein amerikanischer Bodhidharma-Forscher, aber vermutlich in der Zeit zwischen 475 bis 494, also bevor der Shaolin-Tempel offiziell gegründet worden war.

Eine reizvolle, gleichfalls realitätsferne Anekdote bringt Bodhidharma mit dem im Zen-Buddhismus betriebenen Teekult in Verbindung. Während seiner langen Sitz- meditation drohte er immer wieder von Schläfrigkeit übermannt zu werden, weshalb er sich in einem impulsiven Ausbruch die Augenlider ausriß und an die Mauer schleuderte. Das Pflänzlein, das darob erwuchs, erwies sich in Form von Tee als müdigkeitsvertreibend. Die Teepflanze wurde in Japan von buddhistischen Mönchen erstmals Anfang des 9. Jh. und dann notabene von Eisai/Yōsai (栄西 1141-1215), dem Begründer der Rinzai-Schule aus China überbracht.

In Japan ist Bodhidharma zum Maskottchen und Kinderspielzeug verkommen.

Daruma als Glücksbringer (Quelle: Univ. Wien)

Meist aus Holz gefertigt in ovaler Form und Stehaufmännchenmanier zeigt er auch da seine unverwechselbaren Attribute: purpurrote Robe, wilder Bart und grimmiger Blick. Dass er keine Beine hat, soll darauf zurückgehen, dass diese aufgrund des langen Sitzens vor der Mauer atrophiert und abgefallen seien. Seine religionsheroische Tat hat Unter den Legenden, die über Bodhidharma kursierten, gibt es zwei, die ikonographisch Spuren gelegt haben: Bodhidharma auf einem Schilfrohr (jap. 芦葉達磨 Royo Daruma) und Bodhidharma mit einem Schuh (jap. 隻履達磨 Sekiri Daruma). Erstere beliebte Darstellung geht darauf zurück, dass berichtet wurde, Bodhidharma sei auf dem Yangtse-Strom gesehen worden, den er auf einem Schilfrohr „surfend“ überquert haben soll. Die andere Legende spielt nach seinem Ableben: ein chinesischer Abgesandter des Hofes soll Bodhidharma getroffen haben, als dieser barfuß dahinwanderte, wobei er in einer Hand einen einzelnen Schuh trug. Auf Nachfrage des Diploma- ten erklärte Bodhidharma, er befände sich gerade auf der Rückkehr in seine Heimat Indien. Der Gesandte erzählte diese Episode, als er wieder in China war und prompt wurde das Grab des Bodhidharma geöffnet. In ihm befand sich nichts außer dem einen anderen Schuh. Der auf dem Schilfrohr wellenreitende und der einen Schuh tragende Bodhidharma wurden ein beliebtes Bildmotiv in China und später in Japan. Er reiht sich da in die Riege der exzentrischen Weisen und heiligen Narren ein.  Darüber- hinaus wird damit symbolisch dargestellt, dass er Zeit und Raum enthoben letztlich als Personifikation des ewigen Buddhadharma gelten darf .

Eine weitere oft auch bildlich dargestellte Erzählung dreht sich um seinen Schüler Huik’o (慧可 jap. Eka, 487-593). Er wird gerne dargestellt, wie er im Schnee sitzend, seine abgeschlagene Hand dem zur Wand gewandten Bodhidharma darreicht. Eine Nacht solle er ausgeharrt haben, nachdem er nicht zu Bodhidharma vorgelassen worden war. Er bat um Schülerschaft und soll schließlich mit oben beschriebener drastischer Geste seine Ernsthaftigkeit und Entschlossenheit unterstrichen haben. Ein früher Chronist aus dem 7. Jh. berichtet, die Hand sei ihm von Räubern abgehauen worden. Wir dürfen diese Geschichte gerne rein allegorisch verstehen, im Sinne dessen, dass der Weg des Zen und des Zen-Adepten volle Hingabe und Opferbereitschaft fordert.

Einer Legende zufolge, soll Bodhidharma nach neun Jahren im Shaolin-Kloster wieder nach Indien zurückgekehrt sein. Zuvor rief er seine Schüler zu sich, „um ihre Verwirklichung seiner Lehre zu prüfen. Der erste Schüler, den er fragte, sagte: ‚Wie ich es verstehe, sollten wir, wenn wir die Wahrheit verwirklichen wollen, uns weder ganz auf Worte verlassen, noch sollten wir die Worte ganz abtun; wir sollten sie vielmehr als ein Werkzeug auf dem Weg benutzen.‘ Bodhidharma antwortete ihm: ‚Du hast meine Haut erfasst.‘ Als nächstes trat eine Nonne vor und sagte: ‚Wie ich es verstehe, ist die Wahrheit wie eine glückverheißende Schau des Buddha-Paradieses; man sieht sie einmal und dann nie wieder.‘ Ihr antwortete Bodhidharma: ‚Du hast mein Fleisch erfasst.‘ Der nächste Schüler sagte: ‚Die vier Großen Elemente sind leer und die fünf Skandhas (= Daseinsfaktoren, W. H.) sind nicht-existent. Es gibt, in der Tat nichts, das zu erfassen wäre.‘ Hierauf entgegnete Bodhidharma: ‚Du hast meine Knochen erfasst.‘ Schließlich war Hui-k’o an der Reihe. Er sagte jedoch nichts, sondern verbeugte sich nur schweigend vor dem Meister. Ihm sagte Bodhidharma: ‚Du hast mein Mark erfasst.‘“ 

Auch dieser Dialog gehört zu den Überlieferungen, die in typologischer Form die Lehre des Zen erläutern. Er ist auch eine Anspielung auf eine Erzählung, die als Gründerlegende des Zen gelten darf. Es geht um die „Blumenpredigt“ des Buddha Shakyamuni am Geierberg. Buddha hielt vor seiner versammelten Schülerschar eine weiße Blume in der Hand, die er wortlos betrachtete. Seine Adepten wussten nicht so recht, was da geschah, nur der asketische Mahākāshyapa zeigte den Anflug eines Lächeln. Er hatte damit bekundet, dass er die Essenz der Lehre seines Meisters intuitiv erfasst hatte. Damit begann die Übertragungslinie des Zen. Im Japanischen heißt diese Episode prägnant nenge mishō (拈華微笑): „Beim Hochheben einer Blume, verhaltenes Lächeln“. (Herbert 2019)

Siehe auch: Herbert 2020

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