„Die Buddhafamilien – genauer gesagt, die Buddhafamilieneigenschaften – verweisen auf Aspekte der Buddha-Natur, die wir alle, sogar die Würmer, besitzen. Im Allgemeinen sind die Faktoren der Buddha-Natur die Bedingung und die Erklärung dafür, dass jeder ein Buddha werden kann. Genauer gesagt sind es die Faktoren (die mit jedem individuellen, befleckten geistigen Kontinuum verbunden sind), die sich entweder in die verschiedenen Aspekte eines Buddhas verwandeln oder für deren Entstehung verantwortlich sind. Sie umschließen Eigenschaften, die andauernd sind, d.h. die man unserem Kontinuum immer hat zuschreiben können, ebenso wie Eigenschaften, die sich entwickeln und wachsen können. Beide Eigenschaftstypen werden in zahlreichen Darstellungen erläutert.
Bei andauernden Eigenschaften kann es sich entweder um Phänomene handeln, die sich nie verändern (etwa um die konventionelle und die tiefste Natur des Geists) oder aber um Phänomene, die sich ihrer Natur nach nie verändern (wie etwa, dass man über Körper, Rede und Geist verfügt).
Sich entwickelnde Eigenschaften können Faktoren sein, die schon immer vorhanden waren, die aber zum Wachsen angeregt werden können, da sie in der Form von Potentialen vorliegen. Ein Beispiel hierfür sind die guten Qualitäten, etwa das Mitgefühl. Sie können ebenfalls Faktoren sein, die neu erlangt werden, wie etwa das Bodhichitta oder ein korrektes Verständnis der Leerheit. Bei letzteren Faktoren gibt es einen ersten Augenblick, in dem sie jemand erreicht und sie können die Eigenschaften, die immer da waren, stimulieren oder verstärken.“ (Berzin 2003)
Trungpa Rinpoche schreibt dazu: „Tantrisches Verhalten bedeutet nicht einfach, pauschale Behauptungen über die Welt aufzustellen und Gelassenheit und einen meditativen Zustand zu schaffen. Tantra ist mehr als zu lernen, schöpferisch und kontemplativ zu sein. Im Tantra setzen wir uns mit den Einzelheiten unseres alltäglichen Lebens entsprechend unserer eigenen, besonderen Veranlagung auseinander. Es ist eine reale und persönliche Erfahrung. Um aber unserem Leben im tantrischen Stil begegnen zu können, müssen wir gewisse technische Einzelheiten des tantrischen Erlebens verstehen.
Die tantrische Beziehung zum Leben gründet sich auf das, was als die Fünf Buddha-Prinzipien oder Fünf Buddha-Familien bekannt ist. Diese Prinzipien nennt man traditionellerweise Familien, weil sie wie unsere leibliche Familie eine Ausweitung von uns sind: wir haben unseren Pappi, wir haben unsere Mammi, wir haben unsere Schwestern und Brüder, und sie sind alle Teil unserer Familie. Wir könnten aber auch sagen, dass diese Verwandten Prinzipien sind: unsere Mutterheit, unsere Vaterheit, unsere Schwesterheit, unsere Bruderheit und unsere Ichheit werden als bestimmte Prinzipien erlebt, die ausgeprägte Eigenarten haben. In gleicher Weise spricht die tantrische Tradition von Familien: fünf Prinzipien, Kategorien oder Möglichkeiten.
Diese fünf Prinzipien oder Buddha-Familien werden Vajra, Ratna, Padma, Karma und Buddha genannt, und sie sind ziemlich gewöhnlich. Sie haben nichts Göttliches oder Außergewöhnliches an sich. Grundlegend geht es darum, dass Menschen auf der tantrischen Ebene in fünf bestimmte Typen unterteilt werden: Vajra, Ratna, Padma, Karma und Buddha. Wir treffen ständig, Mitglieder jeder einzelnen der fünf Buddha-Familien — Menschen, die teilweise oder vollständig einen dieser fünf Typen verkörpern. Wir finden solche Leute unser ganzes Leben hindurch, und jeder von ihnen ist ein fruchtbarer Mensch, ein Mensch, mit dem wir arbeiten und uns direkt und persönlich auseinandersetzen können. Vom tantrischen Gesichtspunkt aus gesehen, setzen wir uns durch die direkten Beziehungen zu den verschiedenen Menschentyp en eigentlich mit verschiedenen Arten der Erleuchtung auseinander.
Buddha-Familie oder -Familien beschreiben die grundlegende Haltung eines Menschen, die innewohnende Perspektive oder den Standpunkt, von dem aus dieser Mensch die Welt wahrnimmt und mit ihr umgeht. Mit jeder Familie ist sowohl ein neurotischer wie ein erleuchteter Aspekt verbunden. Der neurotische Ausdruck jeder Buddhafamilie kann in ihren Weisheits- oder erleuchteten Aspekt verwandelt werden. Und so, wie die fünf Familien das persönliche Verhalten kennzeichnen, sind sie auch mit Farben, Elementen, Landschaften, Richtungen, Jahreszeiten – allen Aspekten der Erscheinungswelt – verbunden. […]
Ohne Verständnis der fünf Buddhafamilien haben wir keine Arbeitsgrundlage für eine Beziehung zu Tantra, und wir fühlen uns selbst von Tantra entfremdet. Wir sehen es als eine völlig unerhörte Sache, die keine Relevanz für uns als Individuen zu haben scheint. Wir haben vielleicht den Eindruck, dass Vajrayana ausschließlich ein entfernter Zweck, ein entferntes Ziel ist. Es ist also notwendig, die fünf Buddhaprinzipien zu studieren. Sie schlagen eine Brücke zwischen der tantrischen Erfahrung und dem alltäglichen Leben. Es ist notwendig, die fünf Buddhaprinzipien zu verstehen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, bevor wir die tantrische Disziplin beginnen, so dass wir verstehen können, worum es bei Tantra überhaupt geht. Wenn Tantra eine mystische Erfahrung ist, wie können wir die Verbindung mit ihm im gewöhnlichen Alltagsleben zu Hause herstellen? Es könnte eine große Kluft zwischen tantrischer Erfahrung und tagtäglichem Leben geben. Es ist aber durch das Verständnis der fünf Buddhafamilien möglich, diese Lücke zu schließen. Wenn wir mit den Buddhafamilien arbeiten, entdecken wir, dass wir bereits gewisse Eigenschaften besitzen. Der tantrischen Perspektive entsprechend können wir sie nicht ignorieren, wir können sie nicht zurückweisen und versuchen, etwas anderes zu sein. Wir haben unsere Aggression und unsere Leidenschaft und unsere Eifersucht und unseren Groll und unsere Ignoranz — was auch immer wir haben. Wir gehören bereits gewissen Buddhafamilien an, und wir können sie nicht zurückweisen. Wir sollten mit unseren Neurosen arbeiten, uns mit ihnen neu auseinandersetzen und sie richtig erleben. Sie sind die einzigen Potentiale, die wir besitzen, und wenn wir mit ihnen arbeiten, sehen wir, dass wir sie als Sprungbrett verwenden können.“ (Trungpa, Chögyam 1982)