„Die nächste Familie ist die Karmafamilie, die von einem ganz anderen Kaliber ist. Wir sprechen in diesem Fall nicht über karmische Schulden oder karmische Konsequenzen; Karma bedeutet in diesem Fall einfach “Handlung”. Die neurotische Eigenschaft von Handlung oder Aktivität ist mit Eifersucht, Vergleich und Neid verbunden. Der erleuchtete Aspekt von Karma wird die Weisheit des alles vollbringenden Handelns genannt. Es ist der transzendente Sinn der Erfüllung von Handlung ohne Mühsal oder ohne in Neurosen gestoßen zu werden. Es ist eine natürliche Erfüllung in Bezug darauf, wie wir mit unserer Welt umgehen. In jedem Fall ist Karma Leistungsfähigkeit, egal ob wir mit der Karmafamilie auf der transzendenten Ebene oder auf der neurotischen Ebene zu tun haben.
Wenn wir die Neurose der Karmafamilie haben, fühlen wir uns höchst aufgebracht, wenn wir ein Haar an unserer Teetasse sehen. Zuerst glauben wir, dass unsere Tasse zerbrochen ist und dass das Haar ein Sprung ist. Dann sind wir erleichtert, weil die Tasse nicht kaputt ist, weil der Sprung nur ein Haar ist. Doch wenn wir dann wieder das Haar an unserer Teetasse anschauen, werden wir von neuem wütend. Wir würden alles sehr gerne leistungsfähig, makellos und völlig sauber machen. Wenn wir jedoch die Sauberkeit erreicht haben, wird sie selbst zu einem neuen Problem: wir fühlen uns unsicher, da es nichts mehr zu leisten, nichts mehr zu bearbeiten gibt. Wir versuchen ständig, jede Kleinigkeit zu überprüfen. Indem wir auf Leistungsfähigkeit so versessen sind, bleiben wir daran hängen.
Wenn wir einen Menschen treffen, der nicht leistungsfähig ist, der sein Leben nicht geordnet hat, finden wir ihn schrecklich. Wir würden solche untüchtigen Leute gerne loswerden, und wir respektieren sie überhaupt nicht, selbst wenn sie fähige Musiker oder Wissenschaftler oder was auch immer sind. Wenn andererseits jemand makellose Leistungsfähigkeit besitzt, haben wir das Gefühl, dass es gut ist, mit diesem Menschen zusammen zu sein. Wir würden uns am liebsten nur mit Leuten abgeben, die sowohl verantwortungsvoll als auch anständig sind. Dennoch entdecken wir, dass wir auf derart leistungsfähige Leute neidisch und eifersüchtig sind. Wir wollen, dass andere leistungsfähig sind, aber nicht mehr als wir. Der Inbegriff der Neurose der Karmafamilie ist es, eine uniforme Welt schaffen zu wollen. Selbst wenn wir sehr wenig Philosophie, sehr wenig Meditation und sehr wenig Bewusstsein in Hinsicht auf unsere eigene Entwicklung haben mögen, glauben wir, dass wir mit unserer Welt richtig umgehen können. Wir haben Haltung, und wir setzen uns richtig mit der ganzen Welt auseinander. Wir sind aufgebracht, weil alle anderen die Dinge nicht genauso sehen wie wir. Karma ist mit dem Element Wind verbunden. Der Wind weht niemals gleichzeitig in alle Richtungen, sondern immer nur in eine. Das ist die Einbahnsicht von Groll und Neid, die einen kleinen Fehler oder eine kleine Tugend aufgreift und aus dieser Mücke einen Elefanten macht.
Bei der Karmaweisheit fällt der Groll weg, aber Energie, Handlungserfüllung und Offenheit bleiben erhalten. Mit anderen Worten, der aktive Aspekt des Windes wird beibehalten, so dass unser kraftvolles Wirken alles auf seinem Weg berührt. Wir sehen die Möglichkeiten, die in Situationen stecken und schlagen wie von selbst die angemessene Richtung ein. Unser Handeln erfüllt seinen Zweck.“ (Trungpa, Chögyam 1982)