A B C D E F G H I J K L M N O P R S T U V W Y Z

Vorschläge zu einer integralen Praxis des Karate-dô

Von Dr. Wolfgang Herbert

Dr. Wolfgang Herbert, Promotion in Japanologie (Nebenfach: Religionswissenschaften) an der Universität Wien 1993, Professor für Vergleichende Kulturwissenschaften an der Universität Tokushima. Der Autor war so freundlich, seinen Text für dagpo.de freizugeben.

Was bedeutet integrale Praxis? Wir sind gewohnt zu hören, dass Karate im Sinne einer umfänglichen Menschenbildung körperliche, geistige und spirituelle Aspekte einschließt. Wenn wir dies ernst nehmen, sollten diese Elemente gezielt geschult und zusammengeführt, also integriert werden. Integral kann auch auf ein Karate ohne Grenzen hindeuten und meint dann im inklusiven Sinne, dass Menschen aller Altersstufen, Genderidentifikationen, ungeachtet nationaler, ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit und auch solche mit körperlichen Einschränkungen oder z.B. altersbedingten Gebrechen Karate-dô praktizieren können. Hier geht es mir vor allem um die eingangs skizzierte holistische Bedeutung. Im heutigen Sportkarate gibt es die Tendenz, die physiologisch-technische Seite des Karate zu isolieren und bevorzugt, d.h. von allem anderen losgelöst zu trainieren. Theoretisches Studium und meditative Übungen werden als sekundär, womöglich gar als überflüssig betrachtet. Integrale Praxis meint, dass alle diese drei Bereiche gleichberechtigt, synergetisch und in Feedback-Manier geschult werden. In den prämodernen, traditionellen Kampfkunstdisziplinen waren sie unisono und untrennbar ineinander verwoben. 

            Alle im Folgenden angesprochenen Themenkreise habe ich im Buch „Von Shaolin bis Shôtôkan. Beiträge zur integralen Praxis des Karate-dô“ detailliert ausgeführt und minutiös mit Quellenangaben versehen. Wenn wir an die Wurzeln des heute weltweit ausgeübten japanischen Karate (dazu gehört allen voran das Shôtôkan) gehen wollen, sollten wir über Okinawa hinaus nach China oder selbst bis nach Indien zurückblicken. Die Kampfkünste wurden seit dem Altertum in einem spezifischen politischen, sozialen und geistesgeschichtlichen Umfeld entwickelt, das sie nachhaltig geprägt hat. Im Laufe der Modernisierung haben sich seit der Neuzeit die Felder der Politik, Religion, Wirtschaft, Moral, Kunst, Wissenschaft, Medizin, Medien u.a. ausdifferenziert und sind autonom geworden. Das heißt, dass in vormodernen Epochen diese Sphären meist unter Dominanz der Religion in einem einheitlichen Weltbild gebündelt und wirkmächtig waren. Gesundheit etwa und besonders Heilung war mit meditativen, magischen, schamanischen, exorzistischen Praktiken oder religiösen Reinigungsritualen verbunden und konnte dem Einfluss karmischer oder sonstiger höherer Mächte zugeschrieben werden. Kampfkünste wurden auf diesem Hintergrund entwickelt und gepflegt. In ihren Ursprüngen standen sie in engem Zusammenhang mit Krieg, Selbstschutz, Mobilisierung spiritueller Kräfte, Imitation von Tieren, Tanz, Straßenschaustellerei (Akrobatik), Theater (Oper), Körperertüchtigung (Gesundheit), Geistesschulung und Selbstkultivierung. Sie umfassten demgemäß neben der rein physisch-technischen auch hygienische, performative, ästhetische, ethische, religiöse und spirituelle Elemente. Letztere wurden nicht im Einzelnen als solche wahrgenommen, da sie selbstverständlicher Teil der herrschenden Weltsicht waren. Eine Rückbesinnnung darauf ist keine Regression, sondern ermöglicht eine bewusste Re-Integration der in der diachronen Vermittlung verlorengegangenen Komponenten auf höherer Ebene. Kampfkunst rein als Sport oder Körperkultur zu konzipieren, ist ein typisches Produkt der Moderne mit ihren Abstraktionsmechanismen und pragmatischen Reduktionen. Das gilt, nebenbei bemerkt, analog auch für das auf Schönheits- und Gesundheitsgymnastik verschlankte und kommerzialisierte Yoga.

            „Karate kommt nicht vom Konfuzianismus oder Buddismus her“ lautet die berühmte Präambel der Eingabe („Zehn Maxime“, 1908) des Itosu Ankô (1831-1915) an das Gremium für Bildung der Präfektur Okinawa, in der er um die Einführung des Karate als Leibeserziehung in den Schulen wirbt. „Herkunft“ ist tatsächlich die korrekte Übersetzung, aber in dieser Formulierung missverständlich, wenn nicht unsinnig. Freilich hat Karate seinen Ursprung nicht im Konfuzianismus oder Buddhismus, wurde aber von beiden in profunder Weise beeinflusst, noch viel mehr vom Daoismus. In den Artikeln 4 und 5 seines Textes erwähnt Itosu, dass die Kraft/Vitalenergie (氣 ki) im Unterbauch (tanden) gesammelt werden solle, eine ganz zentrale daoistische Konzeption. Dort heißt dieses Kraftzentrum u.a. „das Meer des Ki“ (気海, jap. kikai). Mit der subtilen Energie des Ki (気chines. qi, ältere Transkription: ch‘i) sind wir bei einer fundamentalen Leitvorstellung des chinesischen Weltbildes angelangt. 

            Itosu’s Aussage darf nicht als Dogma gelesen werden, sondern muss sorgfältig im historischen Kontext interpretiert werden. Es ging Itosu darum, jegliche religiöse Färbung des Karate wegzulöschen, da eine solche seinem Vorhaben geschadet hätte. Es plädierte für eine Erstarkung der Jugend mittels Karate und damit für die Stärkung der Nation, insbesondere auch des Militärs (!). Das war opportun und entsprach genau dem Zeitgeist des aufkommenden Nationalismus und Imperialismus (nicht nur in Japan). Itosu betont die Körperertüchtigung und sein Plädoyer hat einen starken martialischen Unterton, wenn er z.B. die Anweisung gibt, die eigenen Gliedmaßen als Schwerter zu betrachten. Damit hat er die Vereinseitigung des Karate vorangetrieben. Sein Dokument wird bis heute rezipiert und affirmativ zitiert. Ich meine, dass das Zeitkolorit und die ideologische Aufladung überdacht werden sollten und dass diese Maximen getrost im Müllkübel der Geschichte verschwinden dürfen bzw. nur noch als historisches Denkmal angesehen werden sollten. Interessant bleibt Itosu‘s Hinweis auf den tanden (丹田), der aus der inneren Physiologie des Daoismus stammt, was ihm womöglich nicht bewusst war. Der tanden gilt als Sammelstelle der universalen Energie des Ki.

            Das Ki hat eine makrokosmische Funktion, indem es aus dem Absoluten (dem Dao 道) emergiert und in der polaren Dynamik von Fülle/Verfestigung (実, jap. jitsu) und Leere/Auflösung (虚, jap. kyo) alle Dinge dem Werden und Vergehen unterwirft. Aus dem ultimativem Eins-Sein (dem „höchsten Pol“, 太極, jap. taikyoku, chines. taiji) entsteht diese Polarität (auch: Yin-Yang) und gebiert die Diversität und die „zehntausend Wesen und Dinge“ (万物, jap. banbutsu) und erfüllt diese in allen denkbaren Wechselwirkungen und proportionalen Verteilungen. In seiner mikrokosmischen Form manifestiert sich Ki als Vitalkraft im Menschen. Es besteht eine Denkverwandschaft zum prâna in der indischen Geisteswelt und dem pneuma in der Kosmologie der griechisch-römischen Stoa. Ki koordiniert und dirigiert alle körperlichen und geistigen Funktionen im Menschen und vereint materielle und immaterielle Anteile. Es ist an das Bewusstsein gekoppelt und kann mit dem Willen gelenkt werden. Das Ki strömt dorthin, worauf sich die geistige Aufmerksamkeit fokussiert. Wo der Geist ist, ist das Ki, heißt es in den klassischen Texten, man könnte fast sagen, Geist ist Ki. Wer der Existenz des Ki im traditionellen chinesischen Sinne mit Skepsis begegnet, kann sich behelfsweise damit begnügen, dass es sich um die Lebensenergie und Willenskraft handelt, gleichermaßen schwer endgültig definierbare Begriffe, die alltagssprachlich dennoch ohne Bedenken verwendet werden.

            Nach Auffassung der traditionellen chinesischen Medizin ist der Mensch gesund, wenn der Ki-Fluss ungehindert, spontan und natürlich den Körper durchströmt. „Natürlich“ (自然, jap. shizen) ist eine daoistische Schlüsselmetapher und bedeutet „wie von selbst“, also im Einklang mit dem Dao und damit der kosmischen Gesetzmäßigkeit. Blockaden, Restriktonen, Stauungen oder Verminderungen beim Ki-Flux manifestieren sich als Beschwerden und Krankheiten. Um diese Ungleichgewichte aufzuheben, wurden seit wenigstens zwei Jahrtausenden Visualisationsübungen, Selbst- und Fremdmassagen, Stimulation von Vitalpunkten, Atem- und Körperübungen entwickelt. Das „Ziehen und Lenken“ (導引, jap. dôin) des Qi/Ki war spätestens seit der Tang-Zeit (618-907) Teil der Hofmedizin und dank illustrierter Schriften auch unter dem Volk bekannt. In diesem Umfeld wurden die Kampfkünste gepflegt und nicht nur in diesen galt der gekonnte Umgang (wörtl. „Arbeit, Wirkkraft“) mit dem Ki (気功, jap. kikô, chines. qigong) als unumgänglich. Qigong ist heute in China der Übergriff für alle möglichen hygienischen und therapeutischen Praktiken, bekannt sind bei uns die entsprechenden physischen Exerzitien. Es beruht auf der langen Tradition der Ki-Manipulation und aus Qigong und Lebensverlängerungsmethoden des Daoismus entstand das Taijiquan (太極拳, jap. taikyokuken). Der Name ist Programm: anvisiert ist der Einklang mit dem Dao, das metaphysisch zunehmend mit dem „letzten Ursprung“ des taiji/taikyoku太極 gleichgesetzt wurde. Im Taijiquan spielt die Regulierung des Ki eine zentrale Rolle, die Bewegungen sind entsprechend langsam, bewusst und entspannt. Das Taijiquan bildet den einen Pol der chinesischen Kampfkünste und gilt als weiche, innere Körperkultur. Der andere Pol ist repräsentiert durch das Shaolin-Boxen und seine Derivate. Es gilt als hart und äußerlich, (Muskel)Kraft, Explosivität und Schnelligkeit spielen eine gewichtige Rolle. Das okinawanisch-japanische Karate in all seinen Spielarten gehört in die letztere Gruppe. 

            Eine gute Balance zwischen den Extremen (Yin-Yang) gilt im chinesischen Denken als ideal. Das reicht auch in die Kampfkünste hinein. Sich sowohl in sanften, inneren als auch in harten, äußeren Faustkampfmethoden zu üben gilt als Idealfall, wobei mit zunehmendem Alter das Gewicht auf die ersteren hin tendieren soll. In der Tat gibt es eine Unzahl hybrider Stile, die beide Seiten integrieren und von denen wir viel lernen können. Shôtôkan ist eindeutig sehr extrem, auch unter den Karatestilen gehört es zu den härtesten. Zudem hat die Militarisierung des Trainings im imperialistisch-kaisertotalitaristischen Japan der 1930er Jahre und danach mit der Aufladung des Karate mit feudalem Erbe (Stichwort: das Kriegerethos des Bushidô) zu einer Verhärtung, Verkrampfung und Verbissenheit des Trainings geführt, die selbst im entspannteren Okinawa befremdlich wirkt. Geschmeidigere, weichere und flexiblere Bewegungsformen, wie sie von Egami Shigeru (1912-1981) präferiert wurden, wurden aus der lange Jahre das Shôtôkan prägenden Japan Karate Association (JKA) verbannt. Diese Einseitigkeiten gilt es auszugleichen. 

            Integrale Praxis heißt daher für mich, dass weichere Übungsformen und meditative Praktiken in das Karate zurückgeholt werden. Damit wird die extreme Ausdifferenzierung aufgehoben und deren Ergebnis, die Spezialisierung auf Sport und nur Sport den olympisch Orientierten überlassen. Das ist für die Jugend attraktiv und hat durchaus seinen eigenen Stellenwert. In einem höheren Lebensalter (freilich individuell verschieden) sind die entsprechenden Trainingsmethoden jedoch nicht mehr adäquat, wenn nicht sogar schädlich. Es empfiehlt sich zunehmend behutsamere Methoden einzubeziehen. Das kann ganz simpel damit beginnen, dass die Ausführung der Techniken – durchaus in Shôtôkan-Manier – verlangsamt wird. Kanazawa Hirokazu (1931-2019), der sein Karate begleitend eifrig Taijiquan betrieb, empfiehlt im Vorwort zum ersten Band seiner Kata-Bücher, eine Kata bei mehrmaliger Ausführung das jeweils dritte Mal „sanft“ und ohne jegliche Kraftanwendung zu üben. Dabei könne man somatisch erkunden, wie Anspannung und Entspannung kalibriert werden sollen und vor allem, wo Krafteinsatz angebracht und wo überflüssig sei. Er empfiehlt auch, das Ki im Unterbauch zu sammeln und sich möglichst natürlich zu bewegen und geistig offen und ruhig zu agieren. 

            Wenn man sich im Taijiquan-Tempo bewegt, wird eine introspektive Haltung gefördert, mittels derer jede Bewegung distanziert beobachtet und direkt erspürt wird. Dies entspricht der buddhistischen Achtsamkeitspraxis. Daher spricht man auch vom Taijiquan als Meditation in Bewegung. Hier sind wir bei der spirituellen Komponente des integralen Trainings angelangt. Während die Buddhisten und Yogis die perfekte Sitzhaltung (Lotussitz) anstrebten, lag es den daoistischen Adepten daran, die Haltung zu perfektionieren, die uns als Menschen definiert: das aufrechte Stehen. Sie experimentierten damit, wobei es ihnen darum ging, den optimalen Qi/Ki-Fluss zu gewährleisten und völlig entspannt, natürlich und mit der geringstmöglichen Anspannung zu stehen. Sie entwickelten Meditationsformen im Stehen, die ritsuzen (立禅), also „Zen im Stand“ heißen, wobei das zen in seiner ursprünglichen Bedeutung des Sanskritwortes dhyana verwendet wird, das im Yoga und Buddhismus jeweils konzentrative Absorption und diverse kontemplative Bewusstseinsebenen beschreibt.

            Die Grundübung nennt sich “Stehen wie ein Pfeiler”, wobei die Füße geschlossen bleiben wie in heisoku-dachi, gleichermaßen verbreitet ist das Stehen in der adäquat so bezeichneten „natürlichen Stellung“ (shizentai), also mit schulterbreit geöffneten, parallel ausgerichteten Füßen. Das nennt sich auch „stark stehen“ und dient der Akkumulation des Ki im unteren „Zinnoberfeld“ (seika tanden) und der Erhöhung der Vigilanz und Achtsamkeit. Auch die Vorbereitungs- oder Yôi-Stellung im Karate kann so verstanden und praktiziert werden. Die Anweisungen zur physiologischen Ausrichtung lauten stets wie folgt: die S-Kurve der Rückgrates wird durch Hochheben des Steißbeines begradigt, der Kopf wird nach oben gereckt (das Gefühl wird vielmehr als ein am Scheitel Nach-oben-Gezogenwerden beschrieben), das Kinn leicht nach hinten positioniert, die Zunge am oberen Gaumen angelegt, die Schultern entspannt und die Brust nach innen hohl gehalten, die Knie locker und leicht gebeugt und das Körpergewicht gleichmäßig auf Fersen und Fußballen und -kanten verteilt. Die Arme baumeln auf der Seite und die Hände sind leicht geöffnet, die Finger in gleichen Abständen sanft gespreizt. Der Blick ist ins Unendliche gerichtet, die Augenlider können auch auf Halbmast gehen oder geschlossen werden. Die Atmung lässt man natürlich fließen und geschieht durch Heben und Senken des Zwerchfells in der Bauchregion. Schon nach wenigen Minuten stellt sich ein Wohlgefühl und Geistesruhe ein. Könner stehen eine halbe oder gar ganze Stunde(n) in dieser Haltung. Sie führt zum perfekten Equilibrium des Ki-Flusses. Im Karate können wir die Yôi-Stellung ganz bewusst in dieser Façon einnehmen und damit periodisch den Atem regulieren, den Geist schärfen und das Strömen des Ki harmonisieren. 

            Qigong-Übungen und Taijiquan werden im Prinzip mit derselben körperlichen Ausrichtung ausgeführt, weshalb die Meditation im Stehen als Bereitwerdung dafür praktiziert wird. Der damit geschulte introspektive Beobachtergeist (auch Zeugenbewusstsein genannt) kann in die Art der Ausführung der Kata ins Karate übertragen werden, was diesen eine neue Qualität verleiht. Sie werden dann tatsächlich zu „Zen in der Bewegung“. Die Geistesschulung kennt keine altersmäßigen oder physiologischen Grenzen und auch in diesem Sinne kann Karate bis zum Lebensende ausgeübt werden, selbst wenn man technisch nur noch reduziert agieren kann. Und wie wir heute aus der Neurophysiologie wissen, ist das Gehirn lebenslang neu programmierbar. Dies nennt sich  Neuroplastizität und das Erlernen neuer Bewegungsweisen oder meditativer Methoden korreliert mit der Bildung neuer Synapsen und hält das Gehirn frisch und jung. Dazu gehört auch die geistige Beschäftigung mit dem Karate, wie im Folgenden anskizziert werden soll. 

            Eingangs hatte ich mentale Aspekte als Teil des integralen Trainings genannt. In Karate- und Kampfsportkreisen kann eine gewisse anti-intellektuelle Stimmung beobachtet werden, häufig gepaart mit einem toxischen Machismo. Beides ist korrekturbedürftig. Studium sollte das Karate unbedingt begleiten. Wissen um die Geschichte, Philosophie und Entwicklungslinien vertieft die Praxis. Auch biomechanische und medizinische Kenntnisse sind hilfreich. Neben Büchern und Fachzeitschriften sind die heutigen Möglichkeiten ins Vielfache gestiegen und über das Internet sind Blogs, Online-Unterricht, YouTube-Clips und Gruppen in sozialen Medien unerschöpfliche Quellen des Austausches und der Information, die jedoch qualitativ überprüft sein wollen. Die zumindestens virtuelle Begegnung mit anderen Stilarten und Kampfkünsten aller Herren Länder und Epochen erweitert den Horizont und hilft, neben den Unterschieden die allen zugrunde liegenden gemeinsamen Prinzipien zu destillieren. Wir entdecken die Stärken und Defizite des Shôtôkan neu und wie wir letztere im Rückblick auf die historische Entwicklung kompensieren können.        

            Das hehre Ideal des bunbu ryôdô (文武両道, „Pinsel und Schwert“) steht prominent in vielen Hauscodizes berühmter Samurai-Clans, die seit dem 19. Jh. als bushidô 武士道, „Weg des Kriegers“ fiktionalisiert und propagiert wurden. Es ist nicht urjapanisch, sondern wurde im China der Tang-Zeit (618-907) von den Gelehrten lanciert. Bewandtnis in den schönen Künsten (bun 文Literatur, Poesie, Kalligraphie, Malerei, Musik, Teegenuss etc.) galt als ebenso wünschenswert wie die Beherrschung der Kriegskünste (武bu). Historisch wurde mal mehr auf den Pinsel, mal mehr auf das Schwert größeren Wert gelegt, aber sie gingen immer miteinander einher und gehörten zur umfassenden Bildung des konfuzianischen „Gentleman“ oder Edlen (kunshi 君子). „Karate ist die Kunst des Edlen“ wurde Funakoshi Gichin (1868-1957) in seiner Ausbildung gelehrt, und er verkörperte das oben genannte Ideal durchaus in seiner Person und seinem Wirken. Karate ist lebenslanges Studium und (spirituelles) Wachstum.

            Integrale Praxis verstehe ich in dem Sinne, dass dem Shôtôkan ein wenig seine jüngsten Übertriebenheiten und Kanten abgeschliffen werden. Es hat sich im Zuge seiner Wettkampforientierung und internationalen Verbreitung zu einem dynamischen Sport entwickelt, der in seiner olympischen Form nur noch für ein bestimmtes Alterssegment interessant und praktizierbar ist. In seiner heutigen Ausprägung ist es auf Geschwindigkeit, Akrobatik, Show, Härte und Kraftanspannung fixiert. Shôtôkan bzw. Sportkarate hat damit einen Pol der waffenlosen Kampfkunst bis zu seinem Extrem hin entwickelt. Ein Ausgleich durch den Gegenpol Langsamkeit, Achtsamkeit, Introspektion, Sanftheit und Entspannung würde es ergänzen und abrunden und für eine echte Lebensschule und holistische Menschenbildung tauglich machen. Dafür sind Übungen wie ritsuzen, Qigong, Taijiquan und dergleichen optimal. Auch andere sachte, fließende und den Geist fokussierende Körperschulen wie z.B. Baguazhang, Yiquan, Aikidô oder Yoga sind geeignet als Ergänzung und Vertiefung des Karate, um eine gute Yin-Yang-Balance zu generieren.   

Neben dem rein körperlich-technischen Aspekt, der heute zu sehr im Vordergrund steht, sollten geistige und spirituelle Aspekte re-integriert werden. Die asiatischen Kampfkünste besitzen da eine Schatzkiste an Traditionen. Im Alter oder bei körperlichen Einschränkungen dreht sich das Gleichgewicht naturgemäß im Sinne einer Maxime von Funakoshi Gichin um: 技術より心術 gijutsu yori shinjutsu, „Geist vor Technik“ oder „Geistiges Vermögen ist wichtiger als technisches Können“! Und dann kennt Karate wirklich keine Grenzen!

Ähnliche Einträge

Nach oben scrollen