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Vier Phasen edler Einsicht

Die vier Phasen edler Einsicht sind eine Beschreibung von Phasen des Erwachens aus der Theravada-Tradition.

Eintreten in den Strom

„Das erste Stadium wird das »Eintreten in den Strom« genannt. Dieser Eintritt findet statt, wenn man einen ersten Geschmack von der Bedingungslosigkeit der Erleuchtung erhalten hat, eine persönliche Unabhängigkeit von allen wechselnden Bedingungen der Welt.
Wie Satori oder Kensho (ein großes Erwachen) im Zen, bringt der Eintritt in den Strom einen atemberaubenden Bewusstseinswandel mit sich. Bei dieser ersten Erleuchtungserfahrung wird durch die eigene zeitlose Mitte das separate Ich als Illusion durchschaut und in der Stille des Nirwana die Identifikation mit dem Körper und der Erinnerung aufgegeben. Dies führt zu einer bleibenden Änderung der Weltsicht, und der Strom dieses neuen Bewusstseins führt zu einer immer größeren Unabhängigkeit, so gewiss, wie ein reißender Strom ein Blatt ins Meer transportiert.
Doch selbst nach dieser Erkenntnis der Wahrheit bleibt einem eine weitere Reinigung nicht erspart, sagen die Älteren, denn zur lebendigen Umsetzung dieser neuen Einsicht muss der Charakter transformiert werden.“ (Kornfield, Jack (2010) :140)

„Buddha sagte, dass ein Mensch, der den Stromeintritt verwirklicht hat (die Pali-Bezeichnung dafür ist Sotàpanna) höchstens noch sieben Mal wiedergeboren wird.  Darum möchten viele Buddhisten in diesem Leben mindestens den Stromeintritt erreichen.  Hat ein Mensch den Wunsch, in diesem Leben den Stromeintritt zu erreichen, dann besteht die Gefahr der Selbsttäuschung, dass Erlebnisse als Stromeintritt angesehen werden, die in Wirklichkeit nichts damit zu tun haben.  Wenn jemand die Tugendregeln nicht mehr übertritt, dann meinen manche schon, ein solcher Mensch müsse den Stromeintritt erreicht haben.  Manchmal werden tiefe meditative Zustände oder ungewöhnliche Erfahrungen angesehen als Stromeintritt.“ (Akincano in Kulbarz, Vimalo (2013):389)

Rückkehr des Alten

„So folgt nach dem Eintritt in den Strom die zweite Phase, die »Rückkehr des Alten«. Im Verlauf dieser Phase, die oft viele Jahre dauert, erkennt und überwindet man seine gröbsten Arten des Besitzergreifens und des Abscheus, durch die man sich immer wieder sein begrenztes, geängstigtes Ichbewusstsein aufbaut. Dazu ist die stete und aufrichtige Konfrontation mit dem Leiden nötig, das sich aus der Identifikation mit Ansichten, Normen, Ängsten und Idealen ergibt. Sobald diese menschlichen Zwänge durchschaut sind, verlieren sie die Macht über uns. All das führt schließlich zu einer großen Einsicht, bei der die ausgeprägtesten Formen der Gier, Wut und Angst von einem abfallen. Man hat das Ende der zweiten Phase erreicht.“ (Kornfield, Jack (2010):140)

Keine Rückkehr

„Die dritte Phase nennen die Älteren »Keine Rückkehr«. In ihr befreit man sich unwiderruflich von jeder verbliebenen Identifikation, so dass man sich endgültig nie mehr in Wut, Gier und Angst verliert. Die wenigen, die an diesen Punkt kommen, erreiChen ihn durch unerschütterliche Geduld und Anspruchslosigkeit. Mit wachsender Einsicht in die Leere werden schließlich auch kleinste Regungen des Festhaltens bewusst und überwunden, sobald sie auftreten. In dieser Phase sind wir frei und gegenwärtig und das Herz ist kaum mehr aus der Ruhe zu bringen.“ (Kornfield, Jack (2010) :141)

Großes Erwachen

„Schließlich folgt die vierte und außergewöhnlichste Phase, »Großes Erwachen« genannt, in der die letzten Spuren subtilen Anhaftens — selbst an der Freude, an der Unabhängigkeit und der Meditation — verschwinden. Nun gibt es nicht mehr die geringste Ich-Identifikation und damit auch keine das reine Sein verhüllenden Spuren des Stolzes, des Urteils, der Ruhelosigkeit und der Trennung mehr. Der Glanz unserer reinen Natur strahlt ungehindert durch unser Leben.“ (Kornfield 2010:141)

„Diese Phasenbeschreibung der Älteren erklärt, inwiefern man trotz einer echten Erleuchtungserfahrung in Gier, Wut und Täuschung verstrickt sein kann. Nach der ersten großen Bewusstwerdung, dem Eintritt in den Strom, kann man inspirierte Lehren über die Erleuchtung und das Erwachen erteilen, ohne sie ganz verwirklicht zu haben. Die weiteren Phasen des Erwachens betreffen also Fragen der Umsetzung.


Fast alle Meister stimmen darin überein, dass es nach der ersten Erleuchtung noch Phasen der Angst, Verwirrung und Versuchung gibt — und entsprechend unethische und ungeschickte Verhaltensweisen. Wie überwältigend die Einsicht und wie groß der Segen der Freiheit auch war, es muss ein Reifungsprozess folgen. In all den Jahren habe ich keinen einzigen Abendländer kennen gelernt, auf den dies nicht zugetroffen hätte, und es scheint auch für die meisten asiatischen Lehrer zu gelten. Wer diese Wahrheit leugnet, betrügt sich nur selbst. Als einmal eine Mutter stolz vor Mullah Nasruddin verkündete: »Mein Sohn ist mit seinem Studium fertig«, antwortete Nasruddin: »Gott wird ihm sicher weitere Lehren schicken.« Das gilt für uns alle.


Weil der Eintritt in den Strom sich auf unterschiedliche Weise kundtut und auch auf unterschiedliche Weise erreicht werden kann, herrschen zwischen den Älteren unterschiedliche Lehrmeinungen bezüglich der Methode. In der einen Schule wird die Erleuchtungserfahrung durch tiefe Versenkung herbeigeführt, die die Grenzen des Körpers und jegliche Identifikation mit ihm aufhebt. In einer anderen Schule ist es die Befreiung von intellektuellen Identifikationen. Und in wieder anderen Klöstern wird gelehrt, dass zum Eintritt in den Strom keine tiefe Versenkung nötig ist, sondern er spontan stattfindet, sobald man sich einige Monate im achtsamen Loslassen geübt hat. Manche Lehrer sagen, dass eine einzige Begegnung mit dem Meister oder das Gewahrwerden eines selbstlosen Augenblicks die Erleuchtung bewirken kann. Andere meinen, die Ureinsicht komme, nachdem man sich eingehend mit einem Koan befasst hat. Und selbst innerhalb der Klöster diskutieren die Meister untereinander, ob ein Schüler tatsächlich zur Verwirklichung gelangt ist.

Man sollte am besten von vielen authentischen Wegen ausgehen. Der Eintritt in den Strom hat immer damit zu tun, dass man sein Selbstkonzept loslässt und sich ganz der Freiheit des Augenblicks anvertraut. Es ist wie beim Jazz, von dem Louis Armstrong einmal gesagt hat: »Ich kann nicht erklären, was Jazz ist — du weißt es, wenn du ihn hörst.«“

Kornfield, Jack (2010) :142f

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