Vajrayana-Sichtweise
Auf Tibetisch bedeutet ‚Meditation‘ ’sgom‘ oder ’sgom pa‘. Dies kann mit ’sich gewöhnen‘, ‚vertraut werden‘ übersetzt werden. Aus Sicht des Vajrayana-Buddhismus bedeutet der Prozess des Vertraut-Werdens, dass man
- die Lehren des Dharma in das persönliche Erleben, in die persönliche Erfahrung überträgt,
- dies in kontinuierlicher und täglicher Praxis über lange Zeiträume übt,
- in dieser täglichen Praxis hilfreiche Bedingungen beachtet – etwa die mentale Vorbereitung (Absicht, Aufmerksamkeit) und die passende Umgebung (heilsames Umfeld, keine Störungen, Ruhe, Körperhaltung)
- dabei kontinuierlich durch einen spirituellen Freund, eine spirituelle Freundin oder einen Meditationsmeister, eine Meditationsmeisterin begleitet wird.
Der Prozess der Gewöhnung bedeutet auch die Gewöhnung an neue Sichtweisen bzw eine neue Wahrnehmung aller erlebten Phänomene. Die tägliche Praxis des ‚Vertraut-Werdens‘ ist ein Prozess der Transformation und geschieht in den Dimensionen des Lernens (Hörens), des Kontemplierens und des eigentlichen Meditierens.
Transformation
Der Kern spiritueller Praxis ist ein Prozess, der in einer tiefgehenden Transformation unser Erleben von seinen Schleiern befreit. Jack Kornfield beschrieb dies in einem Gespräch über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von psychedelischem Erleben und Dharmapraxis so:
„KORNFIELD: Um das Herz von der Verstrickung in Gier, Angst, Hass und Verblendung zu befreien, muss eine gewaltfreie Beziehung zur Welt entwickelt werden. Aus dieser Grundlage des mitfühlenden Verhaltens erwächst die ganze Bandbreite anderer meditativer und spiritueller Praktiken.
FORTE: Wie würde das funktionieren?
KORNFIELD: Indem man ein mitfühlendes und harmonisches Leben führt, hat man bereits begonnen, den Geist zu beruhigen und das Herz zu öffnen. Der zweite Bereich besteht darin, das Herz durch Meditationen, Visualisierungen und yogische Praktiken zu trainieren, die den wilden Affengeist zähmen. Es ist die Kraft dieser Praktiken, die die Barrieren des Verstandes, die Identifikation mit unserem kleinen Selbstgefühl, auflösen. Sie vereinigen unseren Körper, unser Herz und unseren Geist durch Konzentration und öffnen uns für die weiten inneren Bereiche.
Der dritte Bereich ist das Entstehen von Weisheit, oder Prajna. Auf der Grundlage eines mitfühlenden Lebens und meditativen Trainings wird das Bewusstsein klar und offen. Weisheit entsteht, wenn wir die ganze Natur dessen sehen, wie das Bewusstsein die Welt erschafft, und wenn wir die Freiheit und das große Herz eines Buddha inmitten all dessen entdecken. Mit dieser Grundlage aus weisem Verhalten und innerem Training haben Sie einen Kontext für die tiefste Weisheit und sie wird auf natürliche Weise in Ihr Leben integriert. […]
Aufgrund meiner eigenen buddhistischen Ausbildung und meiner langjährigen Lehrtätigkeit in der traditionellen Praxis habe ich den Eindruck, dass die Menschen die Tiefe der Veränderung unterschätzen, die erforderlich ist, um sich im spirituellen Leben zu wandeln.
Wahre Befreiung erfordert eine große Perspektive, die von einem Zen-Meister als „lang anhaltender Geist“ bezeichnet wurde. Ja, das Erwachen kommt in einem Moment, aber es zu leben, es zu stabilisieren, kann Monate, Jahre und Lebenszeiten dauern. Die Neigungen oder konditionierten Gewohnheiten, die wir haben, sind so tief verwurzelt, dass selbst enorm überzeugende Visionen sie nicht sehr verändern. Daher beziehen sich die vom Buddha und anderen ähnlichen Traditionen gelehrten Praktiken der Befreiung auf viele Dimensionen des Lebens, um eine solch tiefe Transformation zu ermöglichen. Die Möglichkeit der menschlichen Befreiung steht im Mittelpunkt dieser Lehren. Die Befreiung des Herzens von Gier, Hass, Verblendung und die Befreiung von jeglichem Gefühl des Getrenntseins und der Angst. Dies ist eine sehr verlockende Möglichkeit für die Menschen.“ (Kornfield 2015, übersetzt)
Analytische Meditation
Die Dimensionen des Lernens und Kontemplierens können auch als ‚analytische Meditation‘ zusammengefasst werden. Hier wendet man sich bewusst verschiedenen Themen (etwa dem bedingten Entstehen, der Prozesshaftigkeit allen Erlebens) oder grundlegenden Qualitäten des Daseins (etwa das Nicht-Getrenntsein, Liebe, Mitgefühl) zu. Dies sind
- kognitive, begrifflich fassbare Vorgänge des Lernens, Bedenkens und
- ‚In-das-Thema-Hineinfühlens‘ (der meditierende Geist erfühlt etwa die Natur der Unbeständigkeit in sich).
Die analytische Meditation ist ein prozesshaftes Geschehen, das mit Begriffen wie ‚Entsagung‘, ‚Transformation‘ Entwicklungen zu beschreiben sucht, die letztlich in Begriffen nicht zu erfassen sind und nahtlos in die stabilisierende Meditation übergehen.
Stabilisierende Meditation
Im persönlichen Erleben üben sich Praktizierende darin, einen Geisteszustand zu kultivieren oder zu erzeugen, oder das Erleben in bestimmte Qualitäten zu transformieren – man meditiert über Qualitäten wie liebende Güte, Mitgefühl oder Bodhichitta, die allesamt uns innewohnende Qualitäten sind, die es zu entdecken und enfalten gilt.
Letztendlich ist es das Ziel, in unmittelbarem Erleben in die Natur des Erlebens, den offenen Seinsgrund aller Phänomene, einzutauchen. Dieses Erleben liegt weit jenseits dessen, was mit begrifflichem Denken erfasst werden kann.
Die buddhistische kontemplative Meditation wird auch in die Praktiken des Shamatha oder ‚ruhiges Verweilen‘ und Vipashyana oder ‚Einsichtsmeditation‘ (‚klares Sehen‘) unterteilt .
Siehe auch
- Erläuterungen von Dr Alexander Berzin zu Grundlagen der Meditation
- Erläuterungen von Dr Alexander Berzin zu analytischer und stabilisierender Meditation
Christliche Meditation
Im lateinisch-griechischen christlichen Kontext wird der Ausdruck ‚Meditation‘ sehr spezifisch definiert. Da sind die Inhalte der Ausdrücke ‚Meditation‘ und ‚Kontemplation‘ im Vergleich zur asiatisch-buddhistischen Sicht ganz anders bestimmt, wodurch es in der Begegnung dieser beiden Kulturen bedauerlicherweise zunächst zu Missverständnissen kommen kann.
Hier sei beispielhaft aus der englischen Wikipedia dies eingebracht: „Die christliche Meditation ist eine Form des Gebets, bei der ein strukturierter Versuch unternommen wird, sich der Offenbarungen Gottes bewusst zu werden und darüber nachzudenken. Das Wort Meditation stammt vom lateinischen Wort meditārī, das eine Reihe von Bedeutungen hat, darunter nachdenken, studieren und üben. Bei der christlichen Meditation geht es darum, sich bewusst auf bestimmte Gedanken (z. B. eine Bibelstelle) zu konzentrieren und über deren Bedeutung im Kontext der Liebe Gottes nachzudenken.“ (übersetzt, abgerufen 23.12.2023) Aus buddhistischer Sicht wäre dies der analytischen Meditation bzw der Kontemplation ähnlich.
Umgekehrt beschreibt der Ausdruck ‚Kontemplation‘ im christlichen Kontext eher das, was aus buddhistischer Sicht stabilisierende Meditation genannt wird: „Kontemplation (von lateinisch contemplatio „Richten des Blickes nach etwas“, „Anschauung“, „[geistige] Betrachtung“) ist in philosophischen und religiösen Texten die Bezeichnung für ein konzentriertes Betrachten. Dies entspricht ungefähr dem Begriff ϑεωρία (theōría) in der griechischen Philosophie. In erster Linie geht es dabei um Betrachtung eines geistigen, ungegenständlichen Objekts, in das man sich vertieft, um darüber Erkenntnis zu gewinnen. Im religiösen Kontext ist das Objekt oft eine Gottheit oder deren Wirken. Kontemplation präsentiert sich als intuitive Alternative oder weiterführende Ergänzung zum diskursiven Bemühen um Erkenntnis.“ (Wikipedia, abgerufen 23.12.2023)
Psychologische Definition
Phänomene wie die Meditation hat es in der Menschheitsgeschichte aus heutiger Sicht in allen Kulturen und Zeiten gegeben. Man kann dies etwa in einer Abwendung von Bedürfnissen und Kämpfen des Überlebens (Adrenalingesteuerten Aktivitäten) und einer Hinwendung zu Spüren und Eintauchen in andere Dimensionen des Erlebens (Serotoningesteuertes Erleben) beschreiben. Wir können dies heute nur ahnen, aber wir können kreative Zeugnisse allerfrühester Steinzeit-Kulturen mit magischem Erleben und kontemplativem Staunen in Verbindung bringen.
Im nicht-asiatischen Kontext starten Begriffsdefinitionen leicht mit dem lateinischen Wort <meditārī>, das von einer christlichen Konnotation (s.o.) nicht zu trennen ist. Ganz anders wäre es, wenn man die Definition etwa in einer Sanskrit-Tradition mit den Begriffen bhavana, dhyāna oder samadhi beginnen würde.
Harald Piron empfiehlt „die Unterscheidung zwischen Meditation als Technik, als Zustand und als Weg. […] Oft wird unter Meditation eine Technik verstanden. Es gibt viele Meditationstechniken, die in unterschiedlichen spirituellen Traditionen trainiert werden und auch in bestimmten Kombinationen eingesetzt werden. Als Zustand bezeichnet Meditation einen Bewusstseinsmodus, bei dem sich die Aufmerksamkeit von den Sinnen i. d. R. zurückzieht. Allerdings gibt es auch Meditationsarten, bei denen ganz bewusst ein bestimmter Sinn oder mehrere Sinne eingesetzt werden. Der Bewusstseinszustand in der Meditation ist durch eine außergewöhnliche Klarheit, Stille und Tiefe gekennzeichnet. […] Meditation als Weg beinhaltet einerseits die lebenslange tägliche Praxis der formellen meditativen Übung und andererseits das lebenslange Bemühen, während des ganzen Tages einen achtsamen, friedlichen, klaren Bewusstseinszustand aufrechtzuerhalten.“ (Piron 2020: 6f)
Philosophisch-phänomenologische Sicht
Varela und Thompson (Varela/Thompson 1992:44f) definieren Meditation so:
„Das Wort Meditation hat in der heutigen Öffentlichkeit primär folgende Bedeutungen angenommen:
- ein Zustand der Konzentration, in dem das Bewußtsein nur auf einen Gegenstand gerichtet wird;
- ein Zustand der Entspannung, der psychisch und medizinisch wohltut;
- ein dissozierter Zustand, in dem Trancephänomene auftreten können und
- ein mystischer Zustand, in dem höhere Realitäten oder religiöse Inhalte erfahren werden.
Allen diese Formen ist gemeinsam, daß sie veränderte Bewußtseinszustände sind: Der Meditierende tut etwas, um seinen üblichen weltlichen, unkonzentrierten, unentspannten, nichtdissoziierten, niederen Realitätssinn zu überwinden.
Die buddhistische Achtsamkeit/Gewahrseins-Übung strebt aber genau das Gegenteil dieser Zustände an. Ihr Ziel besteht darin, aufmerksam zu werden, die Tätigkeit des Geistes unmittelbar zu erfahren, im eigenen Geist präsent zu sein. […]
Um ein Gespür dafür zu bekommen, was Achtsamkeitsmeditation ist, muß man sich zunächst klarmachen, wie unaufmerksam die Menschen üblicherweise sind. Gewöhnlich bemerkt man die Neigung des Geistes zum Abschweifen nur, wenn man versucht, eine Aufgabe zu lösen und dadurch gestört wird. Manchmal erkennt man, daß man gerade etwas Angenehmes erlebt hat, ohne dies bewußt zu merken. Tatsächlich sind Körper und Geist selten eng koordiniert. Im buddhistischen Sinne sind wir also nicht präsent.
Wie kann dieser Geist zur Selbsterkenntnis beitragen? Wie kann man mit der Flüchtigkeit, der Nichtpräsenz des Geistes arbeiten? Traditionell handeln die Texte von zwei Stufen der Übung: Beruhigung oder Zähmung des Geistes (Sanskrit: Shamatha) und die Entwicklung von Einsicht (Sanskrit: Vipashyanà). Als eigenständige Praxis angewandt, ist Shamatha faktisch eine Konzentrationstechnik, bei der man lernt, den Geist fest auf einen einzelnen Gegenstand zu richten (der traditionelle Ausdruck ist «anbinden»). Die Konzentration kann schließlich in Zustände glückseliger Versunkenheit münden; zwar werden diese Zustände in der buddhistischen Psychologie sorgfältig katalogisiert, in der Regel aber nicht empfohlen. Im Buddhismus dient die Beruhigung des Geistes nicht dazu, absorbiert zu werden, sondern der Geist soll fähig werden, lange genug in sich präsent zu bleiben, um sein Wesen und seine Wirkungsweise zu erkennen. (Dafür gibt es viele traditionelle Analogien, etwa: Um Malereien an der Wand einer dunklen Höhle sehen zu können, benötigt man ein gutes, windgeschütztes Licht.)
Die meisten heutigen Schulen des Buddhismus praktizieren Shamatha und Vipashyanā nicht als eigenständige Techniken, sondern verbinden Beruhigung und Einsicht zu einer einzigen Meditationstechnik.“