Der Begriff Amanasikāra wurde von Saraha und von Maitrīpa eingebracht und ist mit dem großen Begriff von Mahāmudra verbunden. Kern dieses Ausdruckes ist manasikāra.
In einem zentralen Werk, dem amanasikāra-Zyklus, „verbindet Maitrīpa Śavaripas Mahāmudrā mit seiner bevorzugten Madhyamaka-Philosophie des Nicht-Verweilens (apratiṣṭhāna), die darauf abzielt, jede begriffliche Bewertung der wahren Realität radikal zu transzendieren. Dieses Ziel wird erreicht, indem man „seine Aufmerksamkeit“ (amanasikāra) von allem zurückzieht, was die Dualität von Wahrgenommenem und Wahrnehmendem beinhaltet. […]
Maitrīpa versteht amanasikāra jedoch nicht nur in dieser gewöhnlichen Bedeutung von geistigem Nicht-Engagement, sondern analysiert die Verbindung a-manasikāra als „leuchtende Selbstermächtigung“. Dabei versteht er das Privativ a als Bezeichnung für leuchtende Leerheit, mit der man sich direkt (manasikāra) auf nicht-begriffliche Weise auseinandersetzt. (Mathes 2021)
Aufmerksamkeit
Wenn wir manasikāra als Aufmerksamkeit deuten, welche durch das vorstehende ‚a‘ verneint wird, so könnte etwas wie Nicht-Aufmerksamkeit oder mentale Untätigkeit (Non-Mentation) entstehen. Maitrīpa deutet dies aber so, dass er sich auf eine tiefergehende Negation bezieht, „die durch Leerheit oder Nicht-Ursprung (anutpāda) impliziert wird“. Wenn die Aufmerksamkeit aus der wachen ‚Leuchtkraft‘ (luminosity) erwächst, so kommt sie aus dem ungeborenen Urgrund und verlässt diesen auch nicht. In dem Sinne kann man Amanasikāra mit dem Zustand des Mahamudra gleichsetzen.
„In seiner Schlussfolgerung des Amanasikārādhāra setzt Maitrīpa sogar das Privativ a, und damit Nichtentstehung und Leerheit mit ‚Leuchtkraft‘ (luminosity); und manasikāra mit dem tantrischen Konzept der ‚Selbstermächtigung‘ (selfempowerment) gleich. Letztendlich bedeutet amanasikāra nicht nur, seine Aufmerksamkeit von den charakteristischen Zeichen der begrifflich geschaffenen Dualität zurückzuziehen, sondern das privative a steht auch für ‚Nicht-Erscheinen‘ und ‚Leuchtkraft‘; und manasikāra für ‚Selbst-Ermächtigung [innerhalb dieser Leuchtkraft]‘.“
Mathes 2015:X, übersetzt
Wenn man daran geht, den eigenen Geist, die eigene Aufmerksamkeit zur Ruhe zu bringen, was passiert dann? Kann ich diese mentalen Beschäftigungen zur Ruhe bringen? Im Alltagserleben mutet das an, als wollte die Aufmerksamkeit sich selbst auslaufen lassen, stilllegen, stoppen. Wie soll das gehen? Kann der Geist nicht aktiv sein?
Meditationspraxis wendet sich dahin, wie im Geist – etwa aus Wahrnehmungen – mentale Aktivität entsteht, wie im Geist so etwas wie Wirklichkeit gebildet wird. Im alltäglichen Erleben werden Wahrnehmungen durch unsere Wahrnehmungsfilter (z.B. Bedürfnisse oder Erwartungen) gefärbt und geprägt. Im Dharma wird die (‚dualistische‘) Unterscheidung zwischen einem wahrnehmenden Ich und einem wahrgenommenen Objekt als der zentrale Wahrnehmungsfilter beschrieben. Die Faktoren dieser Prozesse der Anwendung von Filtern oder Schleiern werden nimitta genannt.
Nimitta bezeichnet Faktoren (wörtlich ‚Zeichen‘), aus denen wir unsere Wirklichkeit konstruieren. Im Grunde nehmen wir mit unserem Alltagserleben nicht die Dinge wahr, wie sie sind, sondern vielmehr unsere geistigen Projektionen, mit denen wir die Dinge überlagern.
Nicht Nichts-Tun
Nicht-konzeptuelle Weisheit bedeutet nicht, dass alles konzeptuelle (dualistisch-begriffliche) Denken heruntergefahren wird.
Maitrīpa nennt dies ‚Nicht-Aktiv‘ oder ‚Losgelöst von Engagement‘. Er beschreibt einen Modus geistigen Erlebens, der aus einem mental nicht fassbaren Feld stammt, das mit ‚Ungeboren‘ oder ‚Leerheit‘ bezeichnet wird. Der Ausdruck Leerheit ist in diesem Fall so zu beschreiben: Unser Erleben ist ein Prozess, der sich ständig wandelt und keine beständige Substanz hat. In diesem Prozess kann ich ganz ‚Losgelöst von Engagement‘ erleben und gewahr sein. Es muss nichts geschehen, es gibt nichts zu tun, das Leben, das Erleben passiert.
„Dennoch könnte man argumentieren (wie es ‚ Gos Lo tsa ba gZhon nu dpal tat), dass das Aufgeben der vier Arten von Nimittas im Dharmadharmatāvibhāga vor dem Hintergrund des Avikalpapraveśadhāraņī verstanden werden muss; das heißt, die Nimittas müssen durch amanasikāra aufgegeben werden. Die offensichtliche Lösung dieses Problems besteht darin, im amanasikāra des dhāraņī nicht einfach eine völlige Abwesenheit von geistigem Engagement zu sehen, wie man sie zuweilen bei kleinen Kindern oder Narren findet. Dies wird aus der folgenden Passage im Avikalpapraveśadhāraņī deutlich, wo der Pfad mit „korrektem geistigen Engagement“ (samyaṅmanasikāra) verbunden wird:
Auf diese Weise gibt ein Bodhisattva, ein großes Wesen, die charakteristischen Zeichen aller Art [hervorgerufen durch] Gedanken auf, indem er seine Aufmerksamkeit nicht [auf sie] richtet (amanasikāra), und ist so gut mit dem Nicht-Begrifflichen verbunden. Aber zunächst berührt er die nicht-begriffliche Sphäre nicht. [. . .] Als Ergebnis der richtigen geistigen Beschäftigung berührt er die nicht-begriffliche Sphäre „ohne den Wunsch, sie zu erwerben“ (anabhisaṃskārāt) oder [ohne irgendeine andere] Anstrengung (anābhogataḥ), und reinigt [sie] allmählich.
Avikalpapraveśadhāraņī
(Mathes 2015:252)
Manasikāra bedeutet geistiges Engagement. Es ist der Geist, der als die mannigfaltige Welt erscheint. [Der Buchstabe] a steht für Nicht-Erscheinen. Da die beiden identisch sind, erhalten wir amanasikāra. Nicht-Auftauchen, amanasikāra, das Nicht-Begriffliche und das Unbegreifliche sind Synonyme.
In einem Text der Drikung Kagyü heißt es:
Kommentar von Bra bo [ ‚ Bum la ‚ bar] (aus: Mathes 2015:255, übersetzt)
Amanasikāra bedeutet nicht, dass es keine Objekte gibt; sonst würde daraus folgen, [dass sie] einem Hasenhorn und dergleichen ähneln. Es ist nicht die Abwesenheit von Bewusstsein; sonst würde es folgen [dass man wie] eine Vase wird. Es ist nicht die Beendigung von Begriffen, sonst würde folgen, dass es ein Auflösen in einem Stillstand (absorption into cessation) ist, die ohne Begriffe ist. Es ist nicht das Aufhören, sonst würde daraus folgen, [dass es] der Ohnmacht und ähnlichem gleicht. Es ist nicht die Abnahme des Wissens, sonst würde folgen [dass amanasikāra] dem Bewusstsein eines kleinen Kindes [gleicht]. Es ist nicht der Gedanke des amanasikāra, denn das ist genau die geistige Beschäftigung. Es ist nicht die Analyse mittels unterscheidender Einsicht, denn [eine solche Analyse] ist kein nicht-begrifflicher Pfad. Daher ist der amanasikāra Ansatz eine Erkenntnis, die auf Erfahrung beruht und frei von allen Begriffen ist.“
Proper mental engagement
Geistige Aktivität, die auf dem Anhaften an die Projektionen des Geistes beruht, wird als nicht hilfreich (improper mental engagement) bezeichnet. Heilsam wäre aber jenes mentale Geschehen, das zu einer Befreiung aus diesen Projektionen führt (proper mental engagement oder correct mental engagement, skr. samyaṅmanasikāra).
„Das würde bedeuten, dass amanasikāra, solange man sich noch auf einer konzeptionellen Ebene befindet, einfach bedeutet, nichts zu überlagern oder zu leugnen und nichts geistig zu erschaffen, auch nicht die Idee, dass geistiges Engagement eternalistische oder nihilistische Positionen beinhaltet. [..] Dies hat der Erhabene im Nirvikalpapraveśadhāraņī erklärt: Sohn einer edlen Familie, was ist der Grund dafür, dass [der Zustand der] nicht-begrifflichen Sphäre amanasikāra genannt wurde? Es ist im Hinblick darauf, dass [man] über alle charakteristischen Zeichen hinausgegangen ist, die [durch] begriffliches Denken entstanden sind. Mit anderen Worten, der Begriff amanasikāra bezeichnet einen Zustand, in dem man alles begriffliche Denken hinter sich gelassen hat.“ (Mathes 2009:15f)
„Während Kamalaśīla den traditionellen Mahayana-Ansatz der Analyse vertritt, der schließlich zu nicht-begrifflichen Zuständen führt, die die Bezeichnung amanasikāra verdienen, bevorzugt Maitrīpa (ohne Kamalaśīla‘s analytischen Ansatz gänzlich auszuschließen) den direkten Weg der mahāmudrā, auf dem die wahre Natur des Geistes als Leuchtkraft (luminosity) erfahren wird. Die Praxis des amanasikāra muss also entweder durch das korrekte geistige Engagement der Analyse der Leerheit (Kamalaśīla) oder das korrekte geistige Engagement der direkten Verwirklichung der Leerheit als Leuchtkraft (Maitrīpa) ergänzt werden“. (Mathes 2015:257f)
Möge [dein] ungekünsteltes Wissen wie das eines kleinen Kindes sein! Wenn Gedanken [in Bezug auf] fokussierte Aufmerksamkeit auftauchen, lass sie einfach sie in sich selbst schauen! Denke nicht an Wasser und Wellen als zwei verschiedene Dinge! In mahāmudrā, [der Praxis des] geistigen losgelöst seins, meditiert man nicht, denn es gibt nicht den geringsten Grund dazu, es zu tun. […] Beobachte deinen eigenen [Geist] ohne Ablenkung! Wenn du die wahre Natur deines eigenen [Geistes] durch dich selbst erkennst, erscheint sogar der abgelenkte Geist als mahāmudrā.
Saraha, Dohākośamahāmudropadeśa, nach Mathes 2009