„Grundströmungen (āsava), Triebflüsse: getrieben oder ständig beeinflusst zu sein, von dem Wunsch die eigene Existenz zu bestätigen (Existieren-Wollen) oder zu leugnen (Nicht-existierenWollen), sowie von dem alldurchdringenden Wunsch, Sinneserfahrungen machen zu wollen, und dem Hang zu Nicht-Gewahrsein, also die grund legende Neigung, der vollen Klarheit des Erkennens auszuweichen.“ (Borghardt/Erhardt 2016: 48)
„Man spricht entweder von drei oder vier Samsara zugrunde liegenden Impulsen – hier wird in vier unterteilt. Das sind die tiefsten Tendenzen oder Neigungen, die samsarische Existenz bestimmen.
- Der 1. Triebfluss, diese erste impulsive Strömung, ist das Verlangen nach Sinnlichkeit, nach Sinneseindrücken, ein subtiles aber ganz kräftiges Begehren zu riechen, zu schmecken, zu hören, zu fühlen, zu denken, zu sehen. Das ist der grundlegende Wunsch, Sinneserfahrungen zu machen und sich natürlich darüber zu identifizieren. Wenn sich dieses Sinnesverlangen stärker ausgestaltet, dann wird es zum Verlangen nach angenehmen Sinneseindrücken, nach all den guten Gerüchen, dem guten Geschmack, dem schönen Aussehen, den erhebenden Gedanken usw. Es verfeinert sich, das Verlangen gestaltet sich immer mehr aus und wird immer stärker in der Präzision seiner Objekte.
- Der 2. Triebfluss ist das Verlangen nach Dasein, Existenz oder Werden. Das ist der Wunsch, Geburt anzunehmen, in eine Existenz einzutreten. Normalerweise sind wir uns dieser Bestrebungen gar nicht bewusst. Wir sind uns nicht bewusst, dass in uns das subtile Verlangen zu existieren besteht. Wir sind uns auch nicht bewusst, dass dieses subtile Verlangen, Sinneserfahrungen zu machen, in uns aktiv ist. Es taucht nicht in unserem Bewusstsein auf, dass wir im Grunde genommen von diesen Impulsen getrieben sind.
- Der 3. Triebfluss ist das Festhalten an Standpunkten und Ansichten, das Bedürfnis, eine Meinung zu haben, etwas, womit ich mich identifiziere als meine Sichtweise. Wir sind uns normalerweise dieses Bedürfnisses, Standpunkte einzunehmen, gar nicht bewusst. Wir fragen uns immer nur, welchen Standpunkt wir einnehmen wollen – ob wir nun dieser Meinung folgen oder einer anderen Meinung; ob wir dieser Ansicht sind oder einer anderen. Und selbst wenn wir jede Ansicht verweigern, ist das eine weitere Ansicht, ein weiterer Standpunkt. Dass dahinter ständig dieses Streben nach Positionierung aktiv ist, einen Standpunkt, einen Bezugspunkt zu haben, ist uns gar nicht bewusst. Und das – meinte der Buddha – ist der grundlegende Impuls, sich mit einer Sichtweise zu identifizieren. Dieser dritte Punkt wird in manchen Listen der Triebflüsse gar nicht erwähnt, weil er im nächsten enthalten ist.
- Der 4. Triebfluss ist Unwissenheit oder mangelnde Bewusstheit, also das, was uns eigentlich immer wieder auch Zustände mangelnder Klarheit bevorzugen lässt, was uns in mangelndem Gewahrsein kreisen und leben lässt. Wir sind uns dessen gar nicht bewusst, aber diese Tendenz ist sehr stark. Wir haben nicht nur den Wunsch zu erwachen, sondern auch einen Wunsch, möglichst nicht zu erwachen, möglichst nicht gewahr zu sein. Dieser Wunsch ist auch in uns aktiv. Normalerweise ist uns das nicht bewusst, aber in vielen Situationen ziehen wir den Schlaf dem Wachzustand vor, das unschärfere Bewusstsein dem klareren Bewusstsein. Es ist diese grundlegende Tendenz zum Nicht-Wissen. Wir haben diesen starken Wunsch zum Nicht-Wissen, zur Unwissenheit, zu weniger Klarheit, ein innerliches Sich-Abwenden von einer weniger Ich-bezogenen Präsenz.
Erwachen, Erleuchtung wird definiert als das völlige Aufgelöst-Haben dieser vier Triebflüsse, und da wird uns vielleicht bewusst, wie tiefgreifend, wie umfassend Erleuchtung ist. Bis diese vier Tendenzen aufgelöst sind, das ist eine Revolution im Sein. Alle vier sind ja unbewusste Strömungen in unserem Geist, ein unbewusstes Hingezogen- oder Getrieben-Sein, und es braucht eine Menge Arbeit, all diese Tendenzen ins Bewusstsein hoch zu holen und tatsächlich sich auflösen zu lassen.
Diese Triebflüsse sind in unterschiedlichem Maße in den drei Daseinsbereichen aktiv. Im Bereich der Sinnesbegierden, in dem wir leben, ist das Anhaften an Sinneserfahrung besonders stark ausgeprägt. Im Bereich der Götter der Form ist das Haften an Existenz das Dominierende und im Bereich der Formlosigkeit ist die Tendenz zum mangelnden Gewahrsein dominant. Aber in unserem jetzigen Zustand können wir mit Sicherheit davon ausgehen, dass in uns jetzt – während wir hier im Saal sitzen – alle vier Tendenzen aktiv sind. – Über die Götterbereiche mag ich nicht zu viel sagen, ich habe nicht ausreichend studiert, wie es sich da genau verhält.“ (Borghardt 2010)